Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
nicht zum Eunuchen gemacht hatte, begann er den schlaffen Leib unter sich abzutasten.
Ob Tidread noch lebte oder nicht, konnten die Männer
auch später noch herausfinden, die Herwald ihm hoffentlich geschickt hatte.
Er würde nicht warten, bis Tidread wieder zu sich kam. Er musste die Lanze finden, den Rückweg finden, hinaus aus der Höhle.
Der Gedanke an Tageslicht und Sonne beflügelte ihn. Rasch tastete er Tidreads Leib ab, fand die Gürtelschnalle, den Gürtel, Beutel, die am Gürtel hingen, fühlte das Schwert des Sachsen unter seinen Händen, die leere Dolchscheide, doch keine Lanze.
Aber Tidread musste sie doch bei sich haben?
Mit einiger Anstrengung wälzte Bandolf den noch immer reglosen Körper des Sachsen zur Seite. Erleichterung durchflutete ihn, als er endlich die längliche Form einer Lanzenspitze unter grobem Stoff erspürte. Tidread hatte das Kleinod in ein Tuch gewickelt und hinten in seinen Gürtel gesteckt.
Vorsichtig zog Bandolf das eingewickelte Kleinod aus dem Gürtel. Dann hievte er sich auf die Beine. Zur Sicherheit stieß er Tidreads Körper noch einmal mit der Stiefelspitze an, bevor er mit einem flauen Gefühl im Magen in die undurchdringliche Dunkelheit starrte.
Wie, zum Henker, sollte er hier herausfinden?
Während des Kampfes hatte er völlig die Orientierung verloren und nicht die leiseste Ahnung, welche Richtung er einschlagen musste, um die Spalte zu finden, die ihn zu seiner Fackel bringen würde.
Wie viel Zeit war vergangen, seit er sie zurückgelassen hatte? Brannte sie noch, oder war sie längst erloschen? Verdammnis! Wenn er die falsche Richtung einschlug und tiefer in die Höhle vordrang, mochte es Stunden dauern, bis seine Männer ihn finden würden. Wenn sie ihn überhaupt fänden.
Und Matthäa? Er musste nach Worms!
Bei allen Heiligen! Da stand er nun, hielt dieses kostbare Kleinod in seinen Händen und scheiterte mangels einer Fackel?
Der Verzweiflung nah, stöhnte Bandolf auf.
Dann runzelte er die Stirn.
Das kostbare Kleinod … Die Heilige Lanze … Die machtvollste Reliquie des Reiches, die den Nagel vom Kreuz des Erlösers in sich barg …
Was könnte ihm denn ein besserer Leitstern im Dunkeln sein, als der Schutz des Herrn und der Segen eines Heiligen?
Die Lanzenspitze fest umklammernd und beide Arme ausgestreckt, setzte Bandolf behutsam einen Fuß vor den anderen, drehte sich, tastete, bis er an eine der Höhlenwände stieß. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Wand, während er das Kleinod hastig vom Tuch befreite. Dann legte er die Lanzenspitze quer über seine ausgestreckte Hand. Geduldig balancierte er, bis sie völlig ruhig auf seiner Hand lag.
Er dachte, dass er vielleicht ein Gebet sprechen sollte, doch mehr als ein rau geflüstertes »Hilf mir« wollte ihm nicht über die Lippen.
Dann wartete er.
Langsam neigte sich die Lanzenspitze nach rechts.
Unglücklicherweise schien der heilige Mauritius der Ansicht gewesen zu sein, dass seine Lanze in einer Höhle wie dieser womöglich am besten aufgehoben sei.
Eine Ewigkeit verstrich, und noch immer tastete sich Bandolf an der Wand entlang, stieß sich in der Dunkelheit die Zehen und schürfte sich die Hände auf, bis jedes Gefühl in seinen Knochen vor Kälte erstorben war, ohne dass
er auf den Spalt gestoßen wäre, der ihn ins Tageslicht zurückführen würde.
Als er endlich Stimmen hörte, die nach ihm riefen, und Fackelschein die Farben an den Wänden aufleuchten ließ, fand er sich tief in der Felsenkammer wieder. Er hatte sich in die falsche Richtung bewegt. Für einen kurzen Augenblick gestattete er sich auszumalen, was wohl mit ihm geschehen wäre, wenn die Männer ihn nicht zur rechten Zeit gefunden hätten. Schaudernd vertrieb er den Gedanken.
Kaum etwas war Bandolf je so köstlich erschienen wie die Hitze dieses sächsischen Sommertages, die ihm die Glieder wärmte, nachdem er der Dunkelheit und Kälte der Höhle schließlich entronnen war. Während er mit dem Rücken am Stamm einer Buche gelehnt vor der Höhle saß – gut zwanzig Schritt von der Stelle entfernt, wo der Prior sein Leben ausgehaucht hatte – und darauf wartete, dass die Männer Tidread herausbrächten, schlug Bandolf das Tuch um die Heilige Lanze zurück.
Nur einmal wollte er das kostbare Kleinod bei Tageslicht sehen.
›Eine gewöhnliche Lanzenspitze‹, dachte er überrascht. Ihm war nicht zur Gänze klar, was er eigentlich erwartet hatte, aber selbst als er sacht über das kühle Eisen strich und
Weitere Kostenlose Bücher