Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
rasch davon überzeugen, dass es der Witwe Diethold nicht am Nötigsten fehlt. Der Mann ist gestern gestorben. Sein Haus liegt in der Schwertfegergasse, da werde ich nicht lange unterwegs sein.«
Sie warf einen Blick in den Himmel und seufzte. »Ich wünschte nur, es würde endlich regnen. Seit die Wolken aufgezogen sind, scheint es, als wöge mein Kind doppelt so schwer.«
»Nur noch wenige Wochen, dann werdet Ihr der Last ledig sein und alle Mühsal vergessen haben«, versprach Garsende.
»Gebe Gott, du hast recht«, sagte Matthäa mit einem zweifelnden Blick auf ihren runden Leib. »Was meinen Umfang betrifft, kann ich doch schon jetzt mühelos mit dem Bischof mithalten.«
Die gewaltige Leibesmasse Seiner Eminenz, Adalberos von Rheinfelden, des Bischofs von Worms, war sprichwörtlich in der Stadt.
»Das steht nun wirklich nicht zu befürchten.« Garsende lachte, und die Burggräfin stimmte in ihr Lachen ein.
An der Ecke der Brotgasse zur Zwerchgasse trennten sich die beiden Frauen. Während Matthäa links in die Zwerchgasse einbog, wandte sich Garsende nach rechts, der Pfauenpforte zu. Es war schon etliche Tage her, seit sie zuletzt in ihrer Hütte nach dem Rechten gesehen hatte, und auch ihre Vorräte an Kräutern, Pulver und Tinkturen gingen zur Neige.
Ein schmales Lächeln glitt über Garsendes Gesicht. Der Umstand, dass sie derzeit unter Schirm und Dach der Burggräfin zu Worms lebte, schien ihr Ansehen beträchtlich gehoben zu haben. Just Frauen von Stand, die zuvor mit gerümpfter Nase und grußlos an der Heilerin vorbeigegangen waren, weil sie ohne männlichen Vormund allein und außerhalb der Stadt lebte, fanden nun plötzlich den Weg in die Münzergasse, um ihren Rat einzuholen.
Bei der Pfauenpforte herrschte reger Verkehr. Händler, Pilger, berittene Boten und andere Reisende verließen Worms, um nach Süden weiterzuziehen, und Knechte mit Sensen, Harken und Karren machten sich auf den Weg zu den Äckern und Weinbergen außerhalb der Stadt, während andere Pilger, Händler, Bauern, Boten und Reisende nach Worms hineinstrebten. Mit ihnen strömten auch all die Bettler, Beutelschneider, Tagelöhner, Wandermönche und Streuner durch das Tor, die von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt zogen oder in den ärmlichen Hütten vor den Toren hausten.
Nachdem Garsende die Pfauenpforte passiert hatte, folgte sie einem breiten Karrenweg, der nach Süden zum Kloster Mariamünster und weiter nach Speyer führte. Kaum hatte sie die Hütten, Scheunen und Zelte der Vorstädter hinter sich gelassen, mündete der Weg in den Wald.
Zwischen den dicht stehenden Bäumen schien es noch drückender zu sein als in der Stadt. Die regenschwangere Luft stand still, das Laub bewegte sich kaum, und nur hin und wieder unterbrach das Knacken eines Astes oder das Zwitschern eines Vogels die Stille.
Als Garsende schließlich in den schmalen Pfad einbog, der vom Hauptweg abzweigte und nach Osten zu ihrer Hütte führte, spürte sie, dass ihr das Gewand trotz der frühen Stunde bereits am Rücken klebte. Während sie dem Pfad folgte, glitt ihr Blick prüfend über die Pflanzen, die am Wegrand wuchsen, und ab und an blieb sie stehen, um hier den Schornigel und da die Schafgarbe zu pflücken und sorgsam in ihrem Beutel zu verstauen. Derzeit schwanden ihre Vorräte schneller, als sie sie aufstocken konnte. Just in den Sommermonaten war die Ernte frischer Kräuter, Blüten und Wurzeln am ergiebigsten, doch die Zeit, die sie in der Stadt verbrachte, fehlte ihr, um die Pflanzen zu sammeln und sie für den jeweiligen Verwendungszweck vorzubereiten.
Der Pfad lag abseits der Hauptwege. Außer Garsende schien zu dieser frühen Stunde hier noch niemand unterwegs zu sein, und die drückende Stille im Wald tat ein Übriges, dass ihre Gedanken bald abschweiften, bis sie schließlich am Bild eines hochgewachsenen Mannes hängen blieben.
Lothar …
»Sieh mir in die Augen. Sag mir: Was siehst du?«, hatte er sie einmal gefragt. Aber just in seinen Augen verstand sie nicht zu lesen.
Mit dem altvertrauten Schmerz der kaum verheilten Wunde kamen die Fragen. War er nur zu ihr gekommen, um sie auszuforschen? Für den Herrn, dem er diente? Wie lange schon?
Und wie immer folgte den Fragen der Zorn. Auf ihn und auf sich selbst. Wie eine Närrin hatte er sie vorgeführt, und wie eine Närrin hatte sie sich vorführen lassen. Oder nicht?
»Heilige Jungfrau!«, stieß Garsende wütend hervor. War es denn nicht ganz gleich, ob und was er fühlte
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