Das Geheimnis der Contessa - Historischer Roman
ins Gesicht und brummte.
War der Tag auch sommerlich warm gewesen, hatte sich die Nacht nun mit einem kaltnassen Schleier in den Ästen niedergelassen, und hier, zwischen den hohen alten Bäumen, war es besonders kühl. Er horchte. Es war kein Weinen mehr zu hören. Vielleicht schliefen die beiden ja endlich. In wenigen Stunden würde es hell werden. Dann wollte er den Tieren und sich eine Rast gönnen. Aber bis dahin galt es noch unbeschadet über Baumwurzeln zu rollen und dunkle Waldstücke zu durchfahren. Was er auf keinen Fall gebrauchen konnte, war ein Achsbruch oder ein Pferd mit gebrochenem Lauf. Enrico zog ein Stück Speck aus der Tasche, das Gianni ihm am frühen Abend gegeben hatte. Er biss herzhaft hinein und nickte zufrieden. Bei Sonnenaufgang würden sie in der dichten Macchia der Maremma sein.
Donna Donata stand am Fenster ihres Gemachs und blickte in die Nacht. Die Landschaft schien wie aus schwarzem Blei gegossen, und die feuchtkalte Luft ließ sie erschauern. Sie war völlig aufgewühlt. Wenn das stimmte, was sie dachte, was sie zu glauben hoffte … Ihre Dienerin hatte ihr erzählt, dass Ascanio die Alte und das Mädchen fortgeschickt hatte, zurück nach Grosseto. Dafür konnte es nur einen Grund geben: Er wollte das Kind von ihr fernhalten. Die Contessa drehte sich um und ging zum Kaminfeuer, um sich ein wenig zu wärmen. Ihr war kalt, sie war müde, aber ihr Herz schlug so schnell, dass es einfach unmöglich war, sich zur Ruhe zu begeben. Donata wanderte vor dem Feuer auf und ab. Ihr Blick fiel auf das Tablett mit dem Nachtmahl. Viel hatte sie nicht essen können, ihr Magen war auf einmal wie zugeschnürt gewesen, aber der Duft der Kräuter, mit denen die Kalmare gebraten worden waren, erfüllte den Raum noch immer. Die Gräfin goss Wein in ihren Pokal. Schwer war er und mit Steinen besetzt, die im Feuerschein funkelten. Die Kerzen in ihren Kandelabern warfen unruhige Schatten an die Wand. Donata leerte den Kelch in einem Zug. Sie spürte instinktiv, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Und wenn es so war, und bei Gott, sie hoffte es inbrünstig, dann musste sie vorsichtig sein. Ihr Gemahl durfte nichts von ihrer Entdeckung erfahren.
Die Contessa dachte an den Augenblick der Begegnung vor wenigen Stunden. Sie hatte den Blick des Mädchens aufgefangen – und aus dem jungen schönen Gesicht lächelte ihr Andrea zu. Bella hatte seine Augen, eines von klarem Blau und eines wie lichter Bernstein, und sie hatte seinen Blick. Einen Blick voller Hingabe. Es gab keinen Zweifel. Bella war ihre totgeglaubte Tochter, und Ascanio hatte es die ganze Zeit gewusst. Warum sonst hätte er dermaßen bestürzt und unbeherrscht reagiert, als er das Kind in ihrem Zimmer sah. Wie groß muss sein Hass sein, überlegte sie, dass er mir das angetan hat. Sie schüttelte den Kopf, um die aufkommenden bösen Gedanken zu vertreiben. Mein Kind ist mir noch einmal geschenkt worden, dachte sie und konnte es immer noch nicht fassen. Ich habe eine Tochter, und sie lebt.
Wieder trat die Contessa an das offene Fenster und spürte die Kälte auf ihrer Haut. Ihre Augen brannten; wie erlösend wäre es gewesen, vor Glück weinen zu können. Aber sie brachte keine einzige Träne hervor. Ich habe mich leer geweint, dachte sie, mein Kummer hat mich ausgetrocknet. Erschöpft von ihren Gefühlen ging sie zurück zum Kamin und ließ sich in dem großen Sessel nieder, der einst ihrem Vater gehörte. Sie erinnerte sich, wie er darin gesessen und ihr von den wilden Pferden der Maremma erzählt hatte. Ihre Finger strichen zärtlich über den fein gewebten Stoff, der bereits an vielen Stellen ausgebessert war. Ihre Tochter lebte. Und es lag in ihrer Verantwortung, dieses Leben zu beschützen. Hier am Hof, in Grosseto und überall sonst auf der Welt. Aber wie sollte sie das anstellen?
»Wann können wir weiterfahren?«
Bella setzte sich ins Gras neben den Kutscher, der gerade ein Stück Brot aß. Ohne sie anzusehen, brach er etwas vom Laib ab und hielt es dem Kind hin, dann schob er seinen Hut aus der Stirn und sagte gleichgültig:
»Wenn die Pferde ausgeruht haben. Dann fahren wir weiter.«
»Ich muss aber zu meiner Mutter. Sie ist krank. Sehr krank. Sie stirbt vielleicht.«
Bellas Augen füllten sich mit Tränen. Sie drehte den Kanten Brot in ihrer Hand hin und her.
»Bella.«
Der Mann hob ihr Kinn zu sich hoch und sah sie streng an.
»Deine Mutter ist sehr krank, ich weiß. Aber wenn die Pferde keine Ruhe bekommen, werden sie
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