Das Geheimnis der Contessa - Historischer Roman
auch sehr krank, und du kommst erst in einer Woche in Grosseto an. Willst du das? Na also.«
Durch den Tränenschleier nahm Bella wahr, wie Enrico sein Brot verspeiste und sich ausstreckte, das Gesicht mit seinem Hut bedeckt. Er schenkte ihr keine weitere Aufmerksamkeit. Die Pferde grasten ruhig neben ihm. Sie ging zum Wagen zurück und blickte hinein. Die Plane bedeckte nur den hinteren Teil des Gefährts. Sie sah Gabriella auf den Strohsäcken ruhen, und das gleichmäßige Geräusch ihres Atems deutete darauf hin, dass ihre alte Tante fest schlief. Das Mädchen legte sich auf den Waldboden, streckte sich aus, wie es der Kutscher getan hatte, und dachte nach. Was sollte nur werden? Was sollte sie tun, wenn der Vater sie nicht wieder nach Lucca ziehen lassen würde? Wenn sie ihm helfen sollte, den kleinen Bruder zu versorgen? Überhaupt – der Bruder. Sie empfand nur Abscheu für das Wesen, das im Begriff war, ihr die Mutter zu nehmen. Niemals würde sie ihn auf den Arm nehmen und lieb zu ihm sein. Sie hasste ihn schon jetzt. Er war an allem schuld. Er allein. Daran, dass sie ihre Freunde verlassen und zu ihrem Vater fahren musste. Daran, dass ihr Leben sich nun ändern würde. Ich hasse dich, dachte sie, ich hasse dich …
Paolo schwang sich in den Sattel und drückte seine Beine fest an den Leib des Pferdes. Es reagierte sofort auf die Berührung des Reiters und setzte sich in Bewegung. Der älteste Sohn des Conte griff entspannt nach den Zügeln, tätschelte das Tier am Hals und blickte sich um. Wo nur Carlo wieder blieb. Bestimmt war er noch bei Gianni in der Küche. Wenn er sich doch nur halb so viel für die Jagd selbst wie für die Zubereitung des Wildbrets interessieren würde. Der junge Mann seufzte. Es war später Vormittag. Sie hatten ihrem Vater versprochen, gegen Mittag zu seiner Jagdgesellschaft zu stoßen, und wie es aussah, würden sie ihren Pferden die Sporen geben müssen, um ohne allzu große Verspätung anzukommen.
»Carlo!«
Paolo blickte seinem Bruder entgegen, der trägen Schrittes durch den Torbogen kam und gemächlich auf den Platz vor den Stallungen zuging. Er machte ihm ein Zeichen, sich zu beeilen. Der junge Bursche sah nur kurz auf und bummelte weiter. Paolo wurde allmählich ärgerlich. Gewiss, sie beide waren grundverschieden, aber das hier war pure Aufsässigkeit. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum sein Bruder dermaßen gleichgültig war. Er wusste doch genau, was ihnen blühte, wenn sie den Zorn des Grafen erregten. Der Conte machte keinen Unterschied zwischen Knechten und Herren und züchtigte seine eigenen Kinder genauso unbarmherzig wie seine Diener. Beim Gedanken an die letzten Prügel, die er bezogen hatte, krümmte sich Paolo im Sattel. Er verstand seinen Vater nicht. Was konnten Carlo und er dafür, dass ihre Mutter nicht mehr unter ihnen weilte, und war es etwa ihre Schuld, dass der Vater mit seiner zweiten Frau so unglücklich war? Mit finsterer Miene ritt er auf den Bruder zu.
»So komm endlich. Der Conte hasst es zu warten, du weißt doch.«
»Sie ist weg.«
Carlo hob den Kopf und blickte den älteren Bruder an. In seinen Augen spiegelte sich Betroffenheit.
»Wer ist weg?«
Paolo winkte einem der Knechte, er solle Carlos Pferd bringen. Noch immer geistesabwesend ließ sich der Jüngere in den Sattel helfen. Er antwortete nicht. Seine Sprache fand Carlo erst wieder, als sie den Palazzo längst hinter sich gelassen hatten.
»Bella ist fort. Ihre Mutter liegt im Sterben, und Vater hat sie und Gabriella nach Grosseto geschickt.«
Paolo krauste die Stirn. Er verstand überhaupt nichts. Bei der Dienerschaft und ihren Familien passierte ständig etwas, und er war sicher, Carlo interessierte sich nicht im Geringsten dafür. Doch das Schicksal dieses Mädchens und ihrer Tante schien ihn wirklich zu beschäftigen. »Schlimm, das mit der Mutter, aber seit wann machst du dir um kleine Mädchen Gedanken? Sie gehört nicht einmal richtig zu uns, ihre Tante hat sie angeschleppt, als sie gerade einmal laufen konnte.«
Carlo sah seinen Bruder traurig an. Paolo merkte, wie schwer es dem Jüngeren fiel, nicht zu weinen. Er schüttelte den Kopf. Dieser Carlo. Ein weiches Herz, viel zu weich. Gut, dass er nicht der nächste Contewurde. Einer wie Carlo könnte vor lauter Mitgefühl wohl Haus und Hof verschenken und sich selbst zum Diener machen. Er sah ihn fragend an. Carlo begann zu reden.
»Es ist nicht wegen Bella, Paolo. Es ist … wegen Gianni. Wenn Bella nicht
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