Das Geheimnis der Contessa - Historischer Roman
nach dem Rechten sehen müssen. Müde und verdrossen stieg Mario die Stufen wieder hinab und zündete ein Talglicht an. Dann marschierte er zum Hühnerstall, wo es inzwischen ruhig war. Es schien alles in Ordnung zu sein. Der Wirt trottete ins Haus zurück, löschte das Licht und verschloss die Tür hinter sich mit einem dicken Riegel. Die Treppenstufen knarrten unter seinen stampfenden Schritten. Den ungebetenen Gast unter der Stiege bemerkte er nicht.
9. KAPITEL
»… im Namen des Herrn. Amen.«
Der Prete machte das Segenszeichen an Annas Grab und wandte sich zum Gehen. Gabriella ließ die Worte des Geistlichen noch auf sich wirken. Sie hatte beschlossen, nicht wieder an den Hof des Conte di Cavalli zurückzukehren, und Enrico und seine Pferde bereits am frühen Morgen fortgeschickt. Was sollte sie dort auch ohne Bella? Das Mädchen war noch in der Nacht fortgelaufen, und Giacomo fehlte offensichtlich die Kraft, um nach ihr zu suchen. Er war ein gebrochener Mann. Sein Haar war in der letzten Nacht schlohweiß geworden, und er sprach kaum ein Wort. Sie würde sich in der nächsten Zeit um ihn und die Mädchen kümmern müssen. Bella war stark. Um sie brauchte sich Gabriella nicht zu sorgen.
»Wer hat von der Milch genommen, he?«
Mario hielt den halb leeren Krug in Händen und wedelte damit vor dem Gesicht seiner Schankmagd herum. Die zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Ich nicht, Wirt.«
»Gestern Abend war er aber noch voll«, schimpfte Mario, »und du bist die Erste morgens in der Schenke. Also. Gib es zu, und ich lasse es dir durchgehen … Ich ziehe dir die Milch von deinem Lohn ab.«
»Von meinem Lohn – pah!«
Die Magd stemmte beide Fäuste in die Hüften. Ihre Augen blitzten angriffslustig.
»Welcher Lohn, Wirt? Meinst du die Kraft deiner Lenden, die du deinem Weib vorenthältst, meinst du die?«
Als sie den erschrockenen Blick des Mannes sah, lachte sie gackernd auf. Dann nahm sie wieder ihre Gerätschaften zur Hand und sagte ernst:
»Ich habe deine Milch nicht genommen, Wirt. Und die Eier, den Speck und all das andere auch nicht.«
Mario kratzte sich am Kopf. So konnte das nicht weitergehen. »Es fehlt aber etwas«, jammerte er, »jeden Tag fehlt etwas. Das geht nun schon seit Tagen so. Ich sehe abends nach dem Rechten, aber jeden Morgen fehlt wieder etwas.«
»Du hast einen Dieb im Haus, Wirt«, sagte die Magd mit ausdrucksloser Miene. »Du solltest ihn fangen, bevor er dir die Haare vom Leib gefressen hat.«
Mario sah ihr nach, wie sie die Röcke raffte und sich zwischen den Vorräten zu schaffen machte. Ein Dieb! Natürlich, das war die Lösung. Dass er nicht selbst darauf gekommen war. Das Bürschchen konnte sich auf etwas gefasst machen. Er würde sich auf die Lauer legen, und wenn es die ganze Nacht dauern sollte, und er würde diesem Tunichtgut eine Tracht Prügel verabreichen, die er sein Lebtag nicht vergessen sollte. Mario spürte, wie sich seine Laune schlagartig besserte. Nicht nur das, er bekam sogar Appetit. Pfeifend schnitt er sich einen Streifen Schinken von der großen Keule, die ganz hinten in der Vorratskammer hing, und schlenderte in die Gaststube. Seine Magd sah ihm kopfschüttelnd nach.
Bella fror. Sie hatte sich im Keller des Gasthauses versteckt, dort, wo die Weinfässer lagerten. Hier unten, in dem niedrigen steinernen Gewölbe, war kein Geräusch zu hören. Nur wenn sich die Tür zur Schankstube knarrend öffnete. Dann drangen die dröhnenden Stimmen der Gäste herunter bis zu den Fässern, und die Schritte der Magd, die Wein holte, kamen immer näher. Bella hielt jedes Mal die Luft an und hoffte, dass die Frau keinen Hund dabeihaben würde, der sie vielleicht roch und anbellte. Doch die Furcht war unbegründet. Einen Hund gab es hier offenbar nicht, die Besuche der Magd wiederholten sich in regelmäßigem Takt, und das Mädchen begann, sich frei im Keller zu bewegen, solange die Tür geschlossen war. Hatte der letzte Gast die Schankstube verlassen und die Magd den Boden gefegt, verließ die Kleine ihr Versteck und versorgte sich in der Küche mit Essbarem. Sie wusste, irgendwann würde der Wirt sich nicht mehr täuschen lassen, aber vielleicht hatte sie bis dahin eine Idee, wie es weitergehen würde, und vielleicht war sie dann schon weit fort von hier.
Bella lauschte. Es war still in der Schenke. Das zischelnde Geräusch des Reisigbesens war verstummt. Vorsichtig wagte sie sich hinter den Weinfässern hervor und stieg mit nackten Füßen die Treppe empor,
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