Das Geheimnis der Contessa - Historischer Roman
Sinn, mein Leben wäre ganz anders verlaufen. Ich wäre nicht in Versuchung geraten, ich hätte nicht so schwer gesündigt. Vivica …
Die Sonne stand gleißend am Himmel, obwohl die Mittagszeit bereits vorbei war. Der Conte hob den Kopf und sah dem Schwarm Kraniche nach, die laut schreiend über ihn hinwegzogen. Sein Wallach hatte ihn durch die Felder getragen, die Olivenhaine hinauf und wieder hinunter. Der Boden war trocken und wurde zu Staub unter den Hufen; da war kein Wind, um für etwas Abkühlung zu sorgen. Erschöpft stieg di Cavalli ab und übergab sein Pferd dem Stallknecht. Seine Kehle war ausgetrocknet, sein Mund wie voller Erde.
Als er den Palazzo betrat, kam Mahmut herbeigeeilt und nahm ihm Umhang und Handschuhe ab. Das Gesicht des Arabers war ernst. Er wartete, bis der Conte bereit war, ihm zuzuhören, dann richtete er das Wort an ihn.
»Ich habe schlechte Nachrichten, Sua Nobiltà.«
Di Cavalli, dessen Zorn sich inzwischen gelegt hatte, winkte ab.
»So schlimm wird es schon nicht sein. Oder haben wir die Spanier im Haus?«
Er blickte seinen Leibdiener offen an und erwartete ein verhaltenes Lächeln, aber die Augen Mahmuts blieben ernst.
»Mein Conte. Er ist fort. Euer Sohn ist fort.«
Di Cavallis Miene verfinsterte sich. Seine Kiefer mahlten.
»Wann?«
»Wir wissen es nicht genau. Er war bei Eurer Gemahlin, sagt ihre Zofe. Das war zur Mittagszeit. Danach hat ihn niemand mehr gesehen.«
»Sein Pferd?«
Der Conte sprach mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Wut über Paolos Eigenmächtigkeit brachte ihn zur Raserei. Sein Diener nickte. Er hatte sein Pferd mitgenommen, sonst nichts. Mahmut übergab seinem Herrn einen versiegelten Brief.
»Der lag in seinem Gemach, Sua Nobiltà. Ich habe ihn eben erst gefunden.«
Di Cavalli ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. Dann nahm er den Brief und öffnete ihn hastig.
»Lass mich allein.«
Donna Donata hatte sich ihr Nachtmahl bringen lassen. Die Fenster ihres Gemachs waren weit geöffnet, jetzt, wo es endlich etwas kühler geworden war. Sie schaute hinaus. Am Abendhimmel zogen Sterne auf; die fernen Gestirne glitzerten zu Abertausenden am Firmament. Paolo hatte sich ihr anvertraut und von seinem Plan erzählt, die alten Beziehungen zum Hofe in Siena wieder aufleben zu lassen – auch ohne die Zustimmung seines Vaters. Er hatte gute Argumente dafür gehabt, und sie hatte ihm beigepflichtet – wohl wissend, damit einen Keil zwischen ihn und seinen Vater zu treiben. Mit Appetit aß sie von dem Hühnchen, das Roccos Küchenmagd liebevoll angerichtet hatte. Bis zum heutigen Tag hatte Ascanio gewiss gedacht, sein Ältester sei ihm in allem ähnlich. Nicht nur im Aussehen, auch im Wesen. Da hat er sich gründlich geirrt, überlegte die Contessa, im Gegensatz zu seinem Vater besitzt Paolo Weitsicht und Güte. Er weiß, was er den Menschen in Lucca schuldig ist …
Donna Donata horchte auf. Es hatte laut an der Tür geklopft. Im nächsten Moment steckte ihre Zofe bereits den Kopf herein. Sie sah verweint aus, und es fiel ihr sichtlich schwer, nicht auf der Stelle wieder in Tränen auszubrechen. Die Contessa winkte sie zu sich heran. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr hoch. Noch bevor die Dienerin etwas gesagt hatte, wusste sie es. Gabriella.
»Ich kann nicht von dieser Welt gehen, ohne es Euch zu sagen.«
Die Stimme der alten Frau war schwach. An ihrem Lager standen Rocco und Josepha, den kleinen Lucio auf dem Arm. Sie weinten stumm. Die Zofe machte ihnen ein Zeichen zu gehen und schloss die Tür hinter ihrer Herrin. Donna Donata griff nach Gabriellas Hand. Wie zart und klein sie auf einmal war, wie müde ihre Augen.
»Was willst du mir sagen, Gabriella?«
Die Alte schien noch einmal alle Kräfte zu sammeln und versuchte, sich etwas aufzurichten.
»Sie weiß, dass sie Euer Kind ist, meine Contessa. Anna hat es ihr erzählt, als sie im Sterben lag.«
»Hat sie ihr auch gesagt, wer ihr Vater ist?«, wollte die Gräfin wissen. Doch Gabriella schüttelte den Kopf.
»Nein. Das Geheimnis kennt nur Ihr und der Conte – und ich, die ich es nun mit ins Grab nehme.«
Donata fasste die Hand der Sterbenden und drückte sie vorsichtig.
»Ich danke dir. Du hast meine Tochter viele Jahre lang beschützt. Du bist mutig, so wie ich schuldig bin, Gabriella.«
Die Alte nickte und schloss die Augen. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, sie atmete ganz ruhig. Die Contessa stand auf. Leise, als wollte sie den Schlaf der Frau nicht stören, öffnete
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