Das Geheimnis der Haarnadel
bedeutet, wenn nicht vollkommen neuartiges Beweismaterial auftaucht, wird nichts weiter geschehen. Die Gerichtsbarkeit und ihre ausführenden Organe sind, und dies zu Recht, zufrieden mit dem, was als hinreichender Beweis für die wahrscheinlichste« Annahme gilt. Aber sehen Sie, ich bin Amateur, und das im wahrsten Sinne dieses oftmals mißbrauchten Wortes, ich bin ein Mann der seine Arbeit um ihrer selbst willen liebt, nicht des materiellen Gewinns oder eines altruistischen Motives wegen. Was mich treibt ist der Wunsch zu verstehen, und ich kann dankbar sagen, daß ich kein bezahlter Diener jenes seltsamen und häufig unwissenschaftlichen, noch dazu oft inhumanen, Instrumentes bin, das man die Justiz nennt, und in ihrer schärfsten und vielleicht unzugänglichsten Form die Strafjustiz.«
Er pausierte, und ich sah, wie der Rücken, den ich im Blick hatte, sich rührte und ein wenig die Schultern zusammenzog.
Vielleicht um seinen Besucher, dessen Aufmerksamkeit offenbar nachgelassen hatte, aus der Reserve zu locken, fragte Mr. M. an dieser Stelle unvermittelt:
»Ob Sie wohl eine Zigarette für mich hätten?« Ich war ein wenig erstaunt über diese Bitte, denn Mr. M. rauchte nur selten, und wenn, dann hin und wieder eine eher teure ägyptische Zigarette, die er meist vor sich hin brennen ließ, wobei er dem feinen Rauchfaden nachblickte, und die er nur von Zeit zu Zeit mit einem einzelnen Zug zum Brennen ermunterte.
Sein Gast schien erleichtert und zog sogleich eine Schachtel aus der Tasche. Es waren gewöhnliche, große Virginia-Zigaretten. Doch Mr. M. nahm trotzdem an, steckte den Glimmstengel zwischen die Lippen und bat:
»Haben Sie ein Streichholz?«
Da er in der Rechten noch die Zigarettenschachtel hielt, holte der Besucher sein Feuerzeug mit der Linken hervor, schnippte mit dem Daumen die gefederte Kappe auf und hielt die kleine Flamme Mr. M. hin, der sich vorbeugte, an der Zigarette zog und sich dann wieder zurücklehnte. Doch wie ich ihm hätte voraussagen können, war sie nichts für ihn, und nach einigen Zügen legte er sie beiseite, wo sie rasch ausging. Dann nahm er sein Gespräch wieder auf, nun in leichterem Tonfall.
»Wenn es einem Menschen wirklich auf Beweise um der Beweise willen ankommt«, fuhr er fort, »was bedeutet, daß es ihm um Wahrheit um der Wahrheit willen geht, dann kann er sich nicht mit dem Wahrscheinlichen zufriedengeben – er braucht Gewißheit.«
Wiederum trat eine Pause ein, und ich dachte mir, daß Mr. M. wohl darauf wartete, eine Antwort zu bekommen. Wenn ja, dann erfüllte sich seine Hoffnung nicht. Ich sah, wie er den Blick hinauf zum Dach der Laube wandte, als warte er auf etwas. Dann, als das Schweigen andauerte, fuhr er leichthin fort: »Wunderbares natürliches Dach, das die Buche abgibt – ein vollkommener Schutz. Wie Vergil es vor so langer Zeit formulierte: >sub tegimine fagi<.«
Ich sah, wie der andere jäh den Kopf hob und offenbar Mr. M.s Blickrichtung folgte, wobei er den Blick ebenfalls zum Dach der Laube und dann wieder auf Mr. M. richtete, der ihn noch immer nicht ansah. Schließlich ließ Mr. Milium den Kopf sinken und blickte nur noch zu Boden. Da begriff Mr. M. wohl, daß er, wenn er von diesem Mann noch etwas über dessen selbstmörderischen Freund erfahren wollte, gezielter nachfragen mußte.
»Mr. Milium«, hob Mr. M. mit ruhiger, doch ausgesprochen klarer Stimme an, »Sie kannten den verstorbenen Herrn dieses Hauses gut. Es kann kein Zweifel bestehen, daß er ein düsterer, depressiver, egozentrischer und, ich glaube das dürfen wir sagen, mißtrauischer Mensch war. Das ist die Art von Persönlichkeit, bei der wir zu Recht an Selbstmord denken. Aber in der Regel gibt es irgend einen kleinen Anlaß, einen >Auslöser<, der die verborgene Mine der Verzweiflung zündet und das Opfer hinaus ins Unbekannte schleudert. Wissen Sie vielleicht von einem Vorfall, der Mr. Sankey zu jener unwiderruflichen Verzweiflungstat verleitet haben könnte – ich meine, ihn auf die Idee gebracht haben könnte, sich auf diese Weise das Leben zu nehmen? Selbstsüchtige Menschen sind in der Regel ängstlich und meiden jeden Schmerz. Ein Stich ins Herz dürfte doch ausgesprochen schmerzhaft sein, nicht wahr?«
Das erweckte den Befragten zum Leben. »Nicht unbedingt. Ganz und gar nicht. Es gibt… es gibt Berichte über Fälle, in denen es offenbar schmerzlos war – vollkommen schmerzlos!«
»Selbst mit einer so unpraktischen Waffe wie einem Papiermesser?«
»Nun, das
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