Das Geheimnis der Hebamme
vage Erinnerung an die kurze Begegnung.
Seit ihrer Heirat hatte Otto den Kaiser nur einmal aufgesucht, und das war vor sechs Jahren gewesen. Damals hatte der Markgraf die weite Reise nach Italien auf sich genommen, um von Friedrich die Erlaubnis zu erwirken, achthundert Hufen von dem Land, das er als Reichslehen hielt, einem Kloster zu schenken, das im Dunklen Wald errichtet werden sollte. Sie hatte ihn damals wegen der nahenden Geburt Dietrichs nicht nach Lodi begleiten können und war insgeheim froh darüber gewesen. Denn Otto war dem Kaiser gegenüber nicht ganz aufrichtig gewesen, und das bereitete ihr Unbehagen. Er hatte Friedrich gegenüber von einer Schenkung für ein Benediktinerkloster gesprochen. Dabei plante ihr Gemahl von Anfang an, Zisterzienser anzusiedeln, die für ihre Rodungstätigkeit bekannt waren. Allerdings war der Kaiser auf die Zisterzienser nicht gut zu sprechen, weil sie einen anderen Papst anerkannten als den durch Rainald von Dassel ins Amt lancierten.
Friedrich hatte in all den Jahren nichts von seiner enormen Ausstrahlung eingebüßt. Der Staufer war nun Mitte vierzig, sein Haar hatte immer noch jenen rotgoldenen Schimmer, der die Italiener zu dem Namen »Barbarossa« veranlasst hatte, seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, seine Haltung stolz, sein Blick wach.
Selbst Otto, der in Meißen aus sicherer Distanz öfter eine knurrige Bemerkung über den Rotbart fallen ließ, schien sichnun Friedrichs Anziehungskraft nicht entziehen zu können. Denn Furcht vor dem Ausgang des Hoftags konnte es nicht sein, die ihn so gebannt auf den Kaiser blicken ließ. Es gab nur wenige Dinge, vor denen ihr Gemahl sich fürchtete. Bei all seinen Unternehmungen – die Teilnahme an der Rebellion der sächsischen Fürsten eingeschlossen – verließ ihn nie die Überzeugung, mit Tatkraft alles zum Guten wenden zu können.
Nun waren sie an der Reihe, den Kaiser zu begrüßen. Hedwig und Otto traten aus der Menge der prachtvoll gekleideten Fürsten vor den Thronsessel und knieten nieder.
»Otto, liebster Fürst von Meißen. Wir haben Euch lange nicht an Unserem Hof gesehen, aber die treuen Dienste nicht vergessen, die Ihr Uns erwiesen habt. Auch wissen Wir das Rodungswerk zu schätzen, das Ihr betreibt. Das mag Euch wohl abgehalten haben, Unsere Hoftage zu besuchen. Das und andere … Angelegenheiten.«
Der Gesichtsausdruck des Kaisers war unverändert freundlich. Nichts ließ erkennen, wie verärgert er über die Revolte gegen Heinrich den Löwen war.
»Erhebt Euch! Ihr auch, schöne Dame! Wir haben gehört, Ihr habt Euren jüngsten Sohn mit zum Hoftag gebracht. Stellt ihn Uns vor!«
Hedwig schenkte Friedrich ein strahlendes Lächeln, verneigte sich und bedeutete Marthe, die am Rand des Audienzsaales mit Dietrich wartete, den Jungen nach vorne zu schicken.
Dietrich erfüllte seine Aufgabe hervorragend. Aufrecht marschierte er unter den Augen der vielen edlen Gäste durch die große Halle und verbeugte sich formvollendet.
»Wie ist dein Name, junger Mann?«, fragte der Kaiser mit wohlwollender Stimme.
»Dietrich, Eure Majestät.« Der Junge sprach klar und hell, ohne zu zögern oder zu stottern.
»Nach deinem Onkel, dem wackeren Markgrafen von der Ostmark? Ein tüchtiger Ritter, der Uns wertvolle Dienste leistet. Nimm ihn dir zum Vorbild, dann kannst du in ein oder zwei Jahren als Page an Unseren Hof kommen, wenn deine Eltern keine anderen Pläne mit dir haben.«
Während der überraschte Otto dem Kaiser dankte, betrachtete Marthe stolz ihren Schützling. Wie gut er seinen Auftritt gemeistert hatte!
Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie hier im Audienzsaal des Kaisers zwischen all den edlen Herren und Damen stand. Doch es war Hedwigs ausdrücklicher Wunsch gewesen, dass Marthe Dietrich begleitete für den Fall, dass der Kaiser ihn sehen wollte. Als Marthe erklärte, der junge Herr sei vollkommen genesen, war ihr die Markgräfin ins Wort gefallen.
»Ich brauche dich nicht als Heilerin.«
Hedwig hatte ihr Kinn umfasst und ihr in die Augen geblickt.
»Seit unserer ersten Begegnung weiß ich, dass du Dinge siehst und fühlst, die anderen verborgen bleiben. Auch wenn du das gut verbirgst, was klug ist. Ich will, dass du heute alles in dir aufnimmst, was geschehen wird, und mir danach deine Eindrücke schilderst.«
Eigens dafür hatte Hedwig sie mit einem feinen Kleid und einer passenden Haube ausgestattet, in denen sich Marthe völlig fremd vorkam. Sie hatte sich die Haube tief ins Gesicht
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