Das Geheimnis der Hebamme
vorn.
»Unser Bruder«, erklärte Marie wichtigtuerisch, die neben Marthe ging.
Die Sonne musste hinter den Wolken schon recht hoch stehen, als Christian endlich eine Rast befahl. Stöhnend setzten die Siedler ihre Lasten ab und ließen sich zu Boden sinken.
Griseldis und die alte Grete teilten Brot und gedörrten Fisch aus. Marthe hatte ihre Portion noch nicht einmal in Empfang genommen, als neben ihr Streit ausbrach.
»Findest du nicht, dass du deiner Frau nicht alles wegfressen solltest, Kaspar?«, wies die alte Witwe energisch einen stämmigen Mann mit filzigem Haar zurecht, der seiner Frau deren Ration Dörrfisch aus der Hand gerissen hatte.
»Ich brauche das nötiger als sie. Wie soll man von dem kargen Fastenessen bei Kräften bleiben für diese Plackerei!«, brauste der Mann auf. Einige Männer murmelten zustimmend.
»Lass nur, Vater, ich geb ihr von meinem ab«, versuchte ein junger Bursche schüchtern zu schlichten.
Grete schob ihr Kinn vor und starrte grimmig auf Kaspar. »Sie braucht ihre Kräfte genauso wie du! Gib den Fisch her!«
Die Witwe wollte Kaspar die zweite Portion wegnehmen. Der holte zu einem Schlag aus, doch plötzlich war Christian zur Stelle und fiel ihm in den Arm. Mit eisernem Griff zwang er den Wütenden in die Knie und betrachtete ihn voller Abscheu.
»Hier erhebt niemand die Hand gegen eine Frau!«
Kaspar geriet völlig aus der Fassung. »Aber Herr …«, stammelte er. »Wenn ein Weib sich auflehnt gegen einen Mann, muss man sie zum Gehorsam prügeln.«
»Nicht, solange ich euch führe!«
Wortlos starrten die Umherstehenden auf ihren neuen Herrn.
So zornig hatten sie ihn noch nicht erlebt.
Mürrisch gab Kaspar seiner Frau den Fisch zurück, die ihn ohne aufzublicken nahm und sich schnell verzog.
»Wie es scheint, haben wir in unserem neuen Herrn wirklich einen Beschützer gefunden«, raunte Emma der verblüfften Marthe zu.
Nachdem Marthe ihr Essen bekommen hatte, setzte sie sich neben Wilhelma und kramte in ihrem Korb nach Thymian und einer Tinktur aus Alant, Eibisch und Fenchel. »Nimm das hier. Und heute Abend koche ich dir einen Sud, der dir das Atmen etwas leichter macht«, sagte sie.
Mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Resignation schaute die Frau hoch. »Du bist ein gutes Kind. Aber es wird nicht mehr helfen. Ich muss schon zu oft Blut spucken.«
Marthe strich sich müde eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sollte sie Wilhelma belügen, um sie zu trösten?
Doch unerwartet hellte sich Wilhelmas Miene auf. »Bald werden wir einen Einsiedler treffen, einen heiligen Mann. Ich will zu ihm gehen und ihn um seinen Segen bitten. Vielleicht schenkt er mir einen Faden aus seinem Gewand.«
Dieser Marsch ist zu anstrengend für Wilhelma, dachte Marthe. Wie will sie das überstehen?
Die häufigen Schwangerschaften, die harte Arbeit auf dem Feld, das karge Essen machten die Körper der meisten Dorffrauen schnell widerstandslos. Bei vielen Leiden hatten Fine und sie helfen können – ob es nun ein gebrochener Finger war oder eine eiternde Wunde. Aber einen Menschen welken zu sehen, weil es zu wenig Essen gab, das machte Marthe jedes Mal traurig und wütend zugleich.
»Du musst dich schonen. Deine Kinder brauchen dich«, sagte sie schließlich matt.
Beinahe ärgerlich sah Wilhelma hoch. »Denkst du, wir nehmendas alles freiwillig auf uns? Die Familie nie wiederzusehen und die Plackerei, die uns noch erwartet?« Sie blickte hinüber zu Johanna und Marie. »Ich tu’s der Kinder wegen. Karl, mein Ältester, der kommt schon durch. Aber ich muss die Mädchen in Sicherheit bringen.«
»Wovor in Sicherheit?«
Auf diese Frage blieb Wilhelma die Antwort schuldig.
Christian ließ den Siedlern nur wenig Zeit auszuruhen, denn sie hatten ihn um einen kleinen Umweg gebeten, um einen Einsiedler aufzuspüren, der unweit des Pfades leben sollte.
Der Ritter war wenig erfreut über die Verzögerung. Aber er verstand die Ängste der Menschen, die sich ihm anvertraut hatten. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sie einen Geistlichen trafen, der mit ihnen in die neue Heimat zog. Der Segen eines heiligen Mannes würde ihnen manche Last von der Seele nehmen in all der Ungewissheit, die vor ihnen lag. So gab er, wenn auch widerstrebend, sein Einverständnis.
Zu der Höhle des Eremiten würden sie nur zu Fuß durchkommen. Deshalb teilte er Lukas und drei der Männer ein, um die Wagen, die Tiere und die Habe der Siedler zu bewachen. Zu seiner Überraschung hatte Marthe gebeten,
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