Das Geheimnis der Hebamme
auf, um nach Gefäßen zu suchen, die sie dafür nutzen konnten.
Christian sah zu Jonas hinüber, der daraufhin das Wort ergriff. »Wir werden Schößlinge sammeln und Kaninchen fangen und alles Niederwild, das wir uns nach dem Gesetz holen dürfen. Der Fürst erlaubt uns das Fischen. Die Jungs werden Vogelnester ausnehmen, die Frauen Pilze und Beeren suchen. Und vergesst nicht: Zwei der Kühe sind trächtig, wir werden Milch haben. Wir müssen unser Vorhaben nicht aufgeben. Wir sind aufgebrochen, um Land urbar zu machen und auf eigenen Höfen zu leben. Und genau das werden wir tun.«
Christian, Jonas und Hildebrand verteilten die Aufgaben. Die einsetzende Geschäftigkeit schien ein gutes Mittel gegen verloren gegangenen Mut zu sein. Als der Regen endlich nachließ, schickte Christian Männer aus, die das Ufer absuchen sollten. Er ermahnte sie, sich mit Seilen zu sichern, wie er es bei der gescheiterten Rettung Burcharts getan hatte. So konnten sie an den nächsten Biegungen zwei Äxte, mehrere Fässer und sogar einen Sack von Gernots Holzkohle bergen.
Bartholomäus ließ zwei von den Männern ein Grab für Burchart schaufeln. Zum Glück gehörte eine hölzerne Schaufelzu den Dingen, die sie hatten retten können. Dann sprach er ein Gebet für den Toten.
Während sie am Abend erschöpft ums Feuer saßen und darauf warteten, dass die Körner für den Brei weich kochten, berieten sie, was sie nach der Ankunft zuerst in Angriff nehmen würden.
Der Verlust eines großen Teils der Vorräte hatte ihre ursprünglichen Pläne zunichte gemacht. Sie würden mehr Zeit als geplant für die Nahrungssuche aufwenden müssen. Aber genauso dringend mussten sie roden, um säen zu können. So kamen sie überein, den Häuserbau auf den Herbst zu verschieben und zunächst nur eine behelfsmäßige Unterkunft für alle zu errichten. Marthe war insgeheim erleichtert über diese Lösung. Denn das verschob die Frage, wer sie in sein Haus aufnehmen würde, erst einmal in die Zukunft.
Verschmutzt, erschöpft, aber wild entschlossen brachen sie einen Tag später auf, als das Wasser weitgehend abgeflossen war. Männer wie Frauen waren schwer beladen. Sie hatten steile Wegstrecken zu bewältigen und rutschten an manchen Stellen mehr, als dass sie gingen. Doch der Gedanke, dass sie nur noch einen oder zwei Tage von ihrem Ziel entfernt waren, ließ sie die letzten Kräfte zusammennehmen.
Als sie an einem kleinen Weiher vorbeikamen, konnten sie sehen, dass die Sonne strahlend vom Himmel herabschien, als ob nichts geschehen sei. Nur die wild durcheinander liegenden Baumstämme und verwesende Tierkadaver zeugten von der Naturgewalt, die das Gebiet gerade erst heimgesucht hatte.
Am Nachmittag des übernächsten Tages brachte Christian den Zug unverhofft zum Halten. Er wies auf eine von dichtem Wald umgebene Lichtung mit sanften Hügeln vor ihnen.Verstreut standen Bäume und Buschwerk: Birken, Kiefern, Buchen, Tannen, Fichten, Erlen und Hasel. Die Lichtung mochte vor einiger Zeit durch einen Waldbrand entstanden sein. Ein Bach floss in anmutiger Krümmung durch das Terrain.
»Wir sind da. Hier werden wir unser Dorf errichten.«
Für einen Moment herrschte Schweigen.
Marthe atmete tief durch. Sie hatten es geschafft! Nach vielen Wochen der Ungewissheit und unsäglicher Mühen waren sie am Ziel! Bewegt drückte sie Johanna und Marie an sich.
Jonas zog Emma zu sich und legte seinen Arm um sie.
Griseldis brach in Tränen aus.
Guntram grub seine Hände in den Boden und ließ die Erde durch die Finger rieseln.
Vater Bartholomäus sank auf die Knie und sprach ein inbrünstiges Dankgebet.
Plötzlich lagen sich alle in den Armen – lachend, weinend, ungläubig darüber, am Ziel angekommen zu sein, für das sie so viele Entbehrungen und Gefahren auf sich genommen hatten. Jeder ließ fallen, was er gerade trug, und stürzte auf einen anderen zu, den er umarmen konnte.
»Wir sind da! Wir sind da!«
Kuno brüllte, was das Zeug hielt, und schlug Bertram lachend auf die Schulter. Karl kam zu seinen Schwestern gehumpelt und ließ die Krücken fallen.
Lukas versuchte, in all dem Trubel gelassen zu scheinen, wie es sich für einen bewährten Knappen gehörte. Doch heimlich suchte er nach Marthe. Als er sah, wie Karl seine kleinen Schwestern umarmte und dann wie beiläufig auch die bei ihnen stehende Marthe, wurde sein Blick starr.
Dabei entging ihm, dass auch Christian seine Blicke ausgerechnet auf diese Szene gerichtet hatte.
Als sich
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