Das Geheimnis der Hebamme
der Jubel endlich gelegt hatte, setzte große Geschäftigkeit ein. Die Burschen führten das Vieh zum Bach, um es zu tränken, die Frauen trafen lauthals redend Vorbereitungen zum Kochen. Die Männer schritten gemeinsam das Land ab und machten Pläne, wo sie zuerst aussäen konnten. Christian hatte die Hufen schon vor dem Aufbruch abgesteckt, aber deren Verteilung sollte erst nach der Herbstaussaat ausgelost werden. So lange würden sie alles gemeinsam bearbeiten.
»Das Land diesseits des Baches steht uns zur Verfügung«, erklärte der Ritter den aufgeregten Siedlern. »Dort, auf dem Hügel, ist ein guter Platz für die Kirche. Die große Linde soll unsere Dorflinde sein, unter der wir beraten und Gericht halten können.«
Einzig Marthe stand still und musterte versonnen das Stück Land, das nun ihr Zuhause werden sollte. Dafür hatten sie ihre Heimat verlassen, den gefahrvollen Weg auf sich genommen und sich zum Schluss fast auf Knien durch die verwüstete Landschaft gequält. Die Bäume versprachen gutes Holz für starke, Schutz spendende Häuser. Würden sie sich hier gemeinsam ein glückliches Leben aufbauen können?
Christian trat an sie heran, gefolgt von Lukas, der Drago am Zügel führte. »Ich werde morgen nach Meißen reiten und dem Fürsten berichten, dass die Siedler eingetroffen sind«, sagte der Ritter. »Du kommst mit mir.«
Marthe sah überrascht auf.
»Der jüngere Sohn des Markgrafen ist krank. Nach dem, was ich unterwegs gesehen habe, kannst du ihm vielleicht helfen.«
»Was fehlt ihm, Herr?«, erkundigte sich Marthe.
»Ein Gelehrter hat ihn für besessen erklärt, aber seine Mutter will sich damit nicht abfinden. Immer wieder befällt ihn ein rätselhaftes Fieber, manchmal verliert er das Bewusstsein und fängt an zu zucken.«
Nun blickte Marthe besorgt. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
An diesem Abend fand niemand schnell Ruhe. Die meisten flüsterten miteinander und schmiedeten Pläne. Jonas und Emma hatten sich ein Stück abseits auf einem der künftigen Felder zum Schlafen niedergelegt, um so für die Fruchtbarkeit des Bodens zu sorgen.
Christian hatte diesmal auf eine Nachtwache verzichtet, sich ausgestreckt und schien sofort eingeschlafen zu sein. Doch seine Gedanken kreisten um den nächsten Tag. Was würde ihn nach so langer Abwesenheit in Meißen erwarten?
Auch Lukas träumte mit offenen Augen von einer Zukunft, die er sich seit dem Nachmittag in glänzenden Farben ausmalte. Alles schien ihm sonnenklar: Marthe würde den jungen Grafen heilen, Otto und Hedwig würden ihr überaus dankbar sein und sie reich belohnen. Vielleicht verschafften sie ihr sogar eine angesehene Stellung am Hof. Und dann könnte er um ihre Hand anhalten, ohne dass sein Vater das ganze Rittergut zusammenbrüllen oder ihn verstoßen würde.
Wieder rief er sich den Duft ihrer Hände, den Glanz ihres Haares, den Blick ihrer grünen Augen in Erinnerung. Wie würde es sein, ganz sanft ihre Lippen zu berühren? Das vertraute Ziehen stieg in seinen Lenden empor.
Bis er sie haben und zur Frau erwecken konnte, würde er sie behüten wie einen kostbaren Schatz.
Marthe starrte währenddessen gedankenverloren in den Sternenhimmel. Nur wenige Schritte entfernt hörte sie Bertha schluchzen. Guntram redete beruhigend auf sie ein. »Ist ja gut.
Nun hast du es überstanden. Es ist vorbei«, murmelte er.
Nein, dachte Marthe. Jetzt fängt alles erst an.
ZWEITER TEIL
Zwischen zwei fremden Welten
Audienz beim Markgrafen
Als Marthe am nächsten Morgen erwachte, wunderte sie sich über die Stille. Nur ein paar Vögel waren zu hören, aber es fehlte die Geschäftigkeit des bevorstehenden Aufbruchs.
Dann kam die Erinnerung. Sie waren angekommen! Genau hier sollte das Dorf entstehen.
Neben ihr lagen Johanna und Marie eng aneinander geschmiegt. Ein Stück weiter wälzte sich jemand zur Seite und begann leise zu schnarchen.
Sie setzte sich vorsichtig auf, um die Ruhe nicht zu stören, und malte sich aus, wie die Landschaft aussehen würde, wenn hier Häuser stehen und Felder bestellt sein würden.
Für einen Moment zuckte ein Traumbild durch ihren Kopf: Rauchsäulen, die vom Ufer des Baches aus aufstiegen. Und dieser halb abgebrochene Ast an der Dorflinde … sah das von weitem nicht aus wie ein Gehängter?
Entschlossen rieb sie sich die Augen, um die Phantasiegespinste zu vertreiben. Dann fiel ihr ein: Heute sollte sie mit Christian und Lukas nach Meißen reiten. Auch wenn der Gedanke sie
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