Das Geheimnis der Heiligen Stadt
wieder, wurde dann aber ernst. »Ich habe immer noch keine Ahnung, warum dieser unglückliche Ritter in meinem Haus sein Ende gefunden hat.«
»Wart Ihr wirklich so erschrocken, als Ihr ihn gefunden habt?«
»Allerdings war ich erschrocken!«, antwortete Melisende heftig. »Ihr habt vermutlich angenommen, ich hätte mein Entsetzen nur gespielt. Doch ich versichere Euch, das war nicht der Fall.«
»Wie kommt das? Ihr müsst auf Eurer Reise hierhin schon Schlimmeres gesehen haben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ich war mit Onkel unterwegs, und er neigt dazu, sich von Schlachten und Gemetzeln fern zu halten. Obwohl seine Leute sich für gewöhnlich an den Plünderungen beteiligten, kämpfen sie nicht. Wir hatten gute Vorräte und reisten ziemlich bequem. Ich habe allerdings gehört, dass es für die meisten anders war.«
Das war es gewiss, dachte Geoffrey. Er erinnerte sich an Tage, wo sie ohne Wasser durch glühenden Wüstensand marschiert waren, und an Wochen, wo das Essen so karg war, dass sie an wenig anderes denken konnten.
»Ihr seht also«, fuhr sie fort, »ich habe auf unserer Reise nur sehr wenig erlebt, was mich hätte beunruhigen können. Ich habe noch nie einen gesehen, der gewaltsam den Tod gefunden hat. Der Ermordete in meinem Schlafzimmer war der Erste. Seither kann ich in diesem Zimmer nicht mehr schlafen.«
Geoffrey musterte sie eindringlich. »Aber wenn Ihr eine solche Abneigung gegen den gewaltsamen Tod habt, weshalb habt Ihr dann nicht versucht, die Menschen vor Eurem Haus von einem Angriff auf mich abzuhalten? Und Ihr wart ziemlich eifrig dabei, mich den Händen Eures Onkels auszuliefern, als Ihr glaubtet, ich hätte seinen Ring gestohlen.«
»Ich hatte keine Wahl!«, protestierte sie. »Hätte ich versucht, Euch vor der Menge zu retten, nachdem Ihr mich festgenommen habt, wären sie argwöhnisch geworden. Und ich habe versucht, sie zurückzuhalten, wenn Ihr Euch erinnert. Ich habe ihnen gesagt, wenn sie Euch angriffen, würden noch mehr von ihnen sterben. Und was das Ausliefern an Onkel betrifft, hatte ich die Wahl, ob Adam Euch auf offener StraÃe umbringt oder ich Euch hierher bringe. Ich ging davon aus, Onkel würde Euch einfach wegschlieÃen, bis Ihr keinen Schaden mehr anrichten könnt. Er hält schon andere auf diese Weise eingekerkert. Mir ist nicht in den Sinn gekommen, dass er Euch töten könnte.«
Geoffrey nahm an, dass sie die Wahrheit sagte. Allerdings fragte er sich, was sie sich sonst noch für falsche Vorstellungen über ihren ehrgeizigen und intriganten Onkel machte. Allerdings sprach Geoffrey nichts davon laut aus. Stattdessen beobachtete er, wie der kahlköpfige Bruder Alain niedergeschlagen über den Hof trottete, um sein Tagewerk zu beginnen.
Melisende redete weiter. »Ich habe immer noch Albträume wegen dieses jungen Ritters. Als ich den Dolch aus ihm herauszog, bewegte sich eine Hand, und ich dachte, er wäre noch am Leben. Ich bückte mich, um ihn genauer anzuschauen, und ich sah seinen Gesichtsausdruck! Er blickte so erschrocken! Und er wirkte so jung!«
Geoffrey verkniff sich den Hinweis, dass die meisten Leute erschrocken wären, wenn man sie hinterrücks erstach. Er sagte nur: »Er war zweiundzwanzig. Und ein Freund von mir.«
»Oh. Das tut mir Leid.« Sie wirkte ehrlich mitfühlend, aber Geoffrey dachte daran, dass sie mit Daimbert verwandt war und durchaus seine exzellente Schauspielkunst und angeborene Verschlagenheit geerbt oder von ihm erlernt haben konnte.
»Habt Ihr irgendeine Ahnung, wer Bruder Lukas, den Griechen, getötet haben könnte? Er wurde am Heiligen Grab ermordet, während Ihr eingesperrt wart.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weià darüber nicht mehr als über die anderen Mordfälle. Es war ein Glück für mich, dass der Mann zu diesem Zeitpunkt starb. Onkel hätte mich dem Vogt bei dessen Rückkehr wieder ausliefern müssen, und bis dahin blieb nicht mehr viel Zeit.«
Hugo hatte darauf hingewiesen, dass möglicherweise einer von Melisendes Leuten Lukas ermordet hatte, um ihre Unschuld zu »beweisen«. Natürlich lag es in Daimberts Interesse, dass sie freikam und weiterhin für ihn spionieren konnte. Aber wusste Melisende, dass für ihre Freilassung ein Mord in die Wege geleitet worden war? Vermutlich war es ihr nie in den Sinn gekommen: Ihre naiven
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