Das Geheimnis der Heiligen Stadt
und dessen kostbares Gewand aus feiner Seide.
»Und was habt Ihr aufgefunden, während Ihr so in Euren Vorstellungen geschwelgt habt?«
»Ich sah einen Mann ausgestreckt daliegen, unter einem der Bäume hinter dem Dom. Ich dachte zunächst, es wäre nur wieder einer von Euresgleichen, der nach einer Nacht voll Ausschweifungen hier eingeschlafen ist. Dann aber sah ich, dass ein Dolch in seinem Rücken steckte. Ich rief Hilfe herbei, aber wir konnten nichts mehr für ihn tun. Der Mann war tot. Die Krieger des Vogts kamen mit einem Karren herbei und brachten ihn fort.«
»Und der Dolch?«
»Den nahmen sie auch mit. Es war ein groÃes, hässliches Ding, mit einer bösartig gebogenen Klinge und protzigen Edelsteinen am Griff. Ich fragte meine Mönche, ob sie während der Nacht irgendetwas gehört oder gesehen hätten, aber das hatte niemand von ihnen. Ich weià nicht im Mindesten, wie dieser Ritter hier ermordet wurde oder weshalb.«
»Habt Ihr ihn zuvor schon einmal gesehen?«
Der Prior zögerte. »Nein.«
»Wenn Ihr mir hier nicht die Wahrheit sagen wollt, können wir gerne in der Festung weiter darüber reden«, sagte Geoffrey mit ausdruckslosem Gesicht. Er hatte nicht die Befugnisse, einem der Priester des Patriarchen die Verhaftung anzudrohen, doch anscheinend wusste der Prior das nicht. Der Mann erbleichte, blickte auf Roger und fuhr sich nervös mit der Zunge über die trockenen Lippen.
»Ich weià nicht, ob Ihr das versteht«, sagte er und drückte eine seiner ringgeschmückten Hände gegen die Brust. »Der Mann kam wohl gelegentlich für einen Spaziergang hierher. Der Dom ist ein sehr schöner Ort, und die Innenhöfe und Gärten bieten einen angenehmen Aufenthalt.«
»Und wie oft kam er hierher?«
Der Prior sah ihn unfreundlich an. »Zuletzt zwei- oder dreimal die Woche.«
»Hat er sich hier mit irgendjemandem getroffen? Habt Ihr ihn je in Begleitung gesehen?«
Der Prior schüttelte den Kopf. »Nie. Er war immer allein. Er sah aus ⦠als würde er trauern.«
Guido hatte tatsächlich getrauert. Es gab nicht viele Ritter in der Zitadelle, die des Lesens kundig waren, und so hatte Guido Geoffrey vor zwei Monaten gebeten, ihm einen Brief vorzulesen. Darin war dem Ritter mitgeteilt worden, dass seine Gemahlin nach langer Krankheit verstorben sei. Wenn der Prior also die Wahrheit sagte, und das nahm Geoffrey inzwischen an, dann hatte Guido den Frieden des Felsendomes gesucht, um sich, weit entfernt von der unruhigen Atmosphäre der Zitadelle, seiner Trauer hinzugeben.
»Kommen viele Ritter hierher?«
Der Prior schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Vielleicht erinnert sie dieser Ort noch zu sehr an eine Moschee, um ihn als Kirche anzuerkennen.«
Eingedenk der Worte, die Roger wenige Augenblicke zuvor geäuÃert hatte, musste Geoffrey das wohl für wahr halten, wenn auch die meisten Ritter ohnehin selten eine Kirche betraten â ob sie nun einer Moschee ähnlich sah oder nicht.
»Es ist eine Schande, dass sie so wenig genutzt wird«, stellte er fest und blickte zu dem kunstvollen Gitterwerk an der Empore hinauf. »Es ist ein groÃartiges Bauwerk. Und so friedlich.«
Der Prior wurde ein wenig zugänglicher. »Es ist friedlich hier. Sehr viel friedlicher als in der Grabeskirche. Von der sagt man, sie sei der heiligste Ort der Christenheit, doch herrscht dort ein Treiben wie auf dem Marktplatz.«
Dem musste Geoffrey zustimmen. Sie sprachen noch eine Weile miteinander, dann brachen die Ritter wieder auf. Aus dem kühlen Marmorgebäude traten sie hinaus in die sengende Mittagshitze, die sie wie ein Hammerschlag traf. Das Licht wurde von den weiÃen Pflastersteinen vor dem Dom zurückgeworfen und blendete sie. Mit zusammengekniffenen Augen gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie hielten auf den Marktplatz nahe der Sankt-Stephans-StraÃe zu, wo Bruder Pius im Haus eines Schlachters den Tod gefunden hatte.
»Der Mönch, mit dem wir zuerst gesprochen haben, hatte Todesangst«, stellte Roger fest. »Trotzdem hast du am Ende beide dazu gebracht, uns die Wahrheit zu sagen.«
Geoffrey dachte darüber nach, was der Prior ihnen erzählt hatte.
»Bruder Jocelyne war also fort in der Nacht, bevor er gestorben ist. Er hat nicht in seinem Bett geschlafen. Und er war den ganzen Tag aufgeregt und reizbar. Das klingt mir
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