Das Geheimnis der Heiligen Stadt
wisst genauso gut wie ich, dass Schuld oder Unschuld bedeutungslos sind, wenn sich in dieser Stadt erst einmal die Türen hinter einem Gefangenen geschlossen haben!«
»Eine beeindruckende Rede«, sagte Geoffrey bewusst gleichgültig, um sie zu ärgern. Sie mochte Recht haben, aber darum ging es hier gar nicht. Er fragte sich, was Melisende Mikelos wohl so angriffslustig und übellaunig hatte werden lassen. Trotz ihrer kläglichen Versuche, die Menge zurückzuhalten, hatte Geoffrey das Gefühl, dass Melisende ein wenig enttäuscht war, weil die Leute nicht über ihn hergefallen waren. Er hatte einen Fehler gemacht, als er sie am Tag davor festgenommen hatte â ganz offensichtlich, denn anscheinend war sie an dem Mord unschuldig. Und doch wurde er das Gefühl nicht los, dass sie ihm nicht ganz die Wahrheit sagte. Wie auch immer, er würde von ihr gewiss nichts mehr erfahren, was von Bedeutung war. Daher war es angebracht, sich zurückzuziehen, ehe sie sich noch weiter gegeneinander aufbrachten.
Er schenkte ihr ein liebenswürdiges Lächeln. »Ich danke Euch für Eure Hilfe. Ich hoffe, dass Ihr in dieser Angelegenheit nicht noch einmal belästigt werdet. Lebt wohl.«
Er deutete eine kurze Verneigung an, wandte sich um und lieà sie auf der Türschwelle stehen. Sie brodelte vor Wut über die Art, mit der er ihren Groll beiläufig abgetan hatte. Sie sah ihm hinterher, während er davonging. Ãberall entlang der StraÃe taten andere dasselbe, dessen war sie sich bewusst. Einige der Beobachter mochten froh sein, dass sie den Ritter nicht getötet hatten, da die Vergeltung unausweichlich gefolgt wäre. Andere waren vermutlich zutiefst verbittert, dass sie nicht die Gelegenheit genutzt und alle vier ins Jenseits befördert hatten.
Was für ein unangenehmer, überheblicher Mann , dachte Melisende und bemerkte sein selbstsicheres Einherschreiten, das alle normannischen Edelleute von Geburt an zu haben schienen. Doch zumindest hatte er Griechisch mit ihr gesprochen und war nicht einfach nur auf Französisch lauter und lauter geworden. So hätten es die meisten Ritter gehalten â wenn sie sich überhaupt die Mühe machten, höflich mit ihr zu reden.
Geoffrey schritt die StraÃe entlang und hoffte, dass die Schwäche, die er immer noch fühlte, nicht für jeden Beobachter allzu offensichtlich war. Er bog um die Ecke und stand Roger gegenüber, der ihn wütend erwartete.
»Was sollte das alles?«, fuhr dieser ihn an. »Was hast du dir dabei gedacht, uns fortzuschicken und der Menge alleine entgegenzutreten? Sie hätten dich töten können!«
»Ich habe dir gesagt, du sollst in der Zitadelle Hilfe holen!«, rief Geoffrey fassungslos. »Warum hast du das nicht getan?«
Er malte sich aus, wie die Menge immer mehr auf ihn eindrang, während er versuchte, Roger Zeit zu verschaffen, damit dieser mit Verstärkung zurückkehren konnte. Und die ganze Zeit über hatte Roger ihn einfach nur hinter der Ecke beobachtet und kein Wort von dem verstanden, was gesagt wurde. Dieser Gedanke lieà ihm das Blut in den Adern gefrieren.
»Bei all diesem Geschwätz auf Ãgyptisch hatte ich keine Ahnung, was da eigentlich vorging â¦Â«, fuhr Roger fort.
»Es war Griechisch.«
»Meinetwegen Griechisch. Es ist doch alles dasselbe heidnische Geplapper.« Einen Augenblick verstummte Roger, dann hatte er sich auch schon wieder beruhigt. »Also, was hat sie dir erzählt?«
»Nichts«, räumte Geoffrey ein. »Nichts, was sie nicht schon gestern gesagt hat. Ehrlich gestanden war es eine einzige Zeitverschwendung, und wir hätten gar nicht erst hierher kommen sollen.«
»Wir hätten den Nachmittag in einem luftigen Hurenhaus verbringen sollen«, warf Helbye ein. »Oder in einem Wirtshaus bei einem kühlen Bier.«
»Und wohin gehen wir jetzt?«, fragte Roger, der neben Geoffrey herlief. »Vielleicht in ein arabisches Lager auf der anderen Seite der Stadtmauern oder in eine Löwengrube? Oder irgendeinen anderen Ort, der ähnlich freundlich ist wie der, den wir gerade verlassen haben?« Er grinste. Ganz offensichtlich hatte er seinen Groll bereits wieder vergessen. Die Sache war für ihn erledigt. Geoffrey hingegen ärgerte sich immer noch darüber, dass Roger nicht getan hatte, worum er gebeten worden war. Er beneidete Roger um seine Fähigkeit, Ãrger so
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