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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Misses Symmers und Smith blinzelte mich an. Als es gemacht wurde, war ich ziemlich pummelig gewesen und unfähig zu lächeln. Ich schob es sofort beiseite. »Ich bin so hässlich!«
    Felicity lachte. »Ein Gruselfoto, was? Du siehst aus, als wärst du gerade mal zwölf!«
    »Es müsste ein Gesetz gegen Schulabschlussfotos geben. Sie sind grausam.«
    »Macht nichts«, sagte Felicity. »Vergiss das Foto. Die Artikel sind viel schmeichelhafter. Du hast eine ganz schöne Kontroverse ausgelöst.«
    Ich stöhnte. Eine Kontroverse war das Letzte, was ich im Moment gebrauchen konnte. Wir verstummten, weil uns zwei junge Männer entgegenkamen. Sie machten uns übertrieben viel Platz, wichen ganz an den Wegrand aus. Statt uns direkt anzusprechen, fingen sie an zu summen.
    Felicity Hingston zog die Schultern hoch und den Kopf ein. Sie blickte erst wieder auf, als wir an den beiden vorbei waren. Ihre Wangen glühten rot vor Wut. »Ich kann das nicht ausstehen.«
    Ich nickte. Das Liedchen als solches war harmlos, aber die Art, wie uns die McGill-Studenten damit verfolgten, war es ganz und gar nicht. »She walks abroad a dandy with no buttons on her boots.« Die Melodie war so eingängig, dass ich mich manchmal selbst dabei ertappte, wie ich sie vor mich hinsummte.
    Man sang dieses Lied, wenn ein Mädchen unpassend gekleidet war. Ich knöpfte meinen Mantel zu. Jetzt war ich vier Jahre an der McGill, nachdem sich wegen einer Pockenepidemie, die im Herbst 1885 in Montreal grassierte, mein Studienbeginn um ein Jahr verzögert hatte. Diese vier Jahre hätte ich mir kaum schöner vorstellen können, aber fast jede Woche war mir dieses Lied entgegengeklungen. Vielleicht, weil an meinen Strümpfen ein Faden gezogen war oder weil meine Stiefel Schlammspritzer hatten oder mein hochgerutschter Ärmel in der Bibliothek einen Ellbogen enthüllte. Ich hatte nie besonders auf solche Dinge geachtet, aber die McGill-Studenten passten auf wie Schießhunde und erinnerten mich und die anderen Frauen im Donalda-Studienprogramm dauernd daran, dass unsere Anwesenheit hier ein Privileg war. Und dieses Privileg mussten wir uns auf Schritt und Tritt verdienen. Die »Kontroverse«, wie es Felicity nannte, war dabei bestimmt nicht sehr hilfreich.
    Ich hatte akademisch geglänzt, was nicht weiter überraschend war. Aber auch im Umgang mit anderen hatte ich mich gemausert. In meinem Studienjahr gab es neun Studentinnen. Wir waren anders als die Gasthörerinnen, wie zum Beispiel meine ehemalige Zimmergenossin Janie. Die Gasthörerinnen flatterten ein, zwei Semester auf dem Campus herum wie Schmetterlinge und verschwanden dann wieder. Ich gehörte zum drittem Jahrgang der Donaldas, seit es das Programm an der McGill gab, und die anderen Donaldas nahmen ihr Studium alle genauso ernst wie ich. Und sie mochten mich. Zweimal war ich zur Jahrgangssprecherin gewählt worden. Zum ersten Mal im Leben hatte ich Freundinnen, gleichaltrige junge Frauen, die mich verstanden. Ich war im Campusleben aktiv und seit letztem Herbst der erste weibliche Redakteur der Universitätszeitung The Fortnightly .
    Dieses Frühjahr würde ich mein Examen machen. Das letzte Semester hatte ich mir vollgepackt: außer Latein (Horaz’ Epistulae ) und Philosophie (von den Vorsokratikern bis zum Positivismus des neunzehnten Jahrhunderts) auch noch Zoologie (eine Lehrveranstaltung des Rektors der McGill, Sir William Dawson), Physik und Mathematik. Diese Auswahl entsprang nicht einer beliebigen Laune. Ich hatte einen Plan.
    Im Februar hatte ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und einen Brief an den Kanzler der Universität geschickt. Darin hatte ich gebeten, zum Medizinstudium an der McGill zugelassen zu werden. Schon drei Tage später kam die schriftliche Antwort: ein knappes, unzweideutiges Nein.
    »Komm, wir setzen uns«, sagte Felicity und zeigte auf die Treppe des Redpath Building, wo die Prädikatskurse stattfanden. »Wir sind zu früh dran.«
    Ich blinzelte gegen die Sonne. »Ist das da nicht Laure?«
    Wir gingen auf meine Schwester zu, die allein auf der Treppe stand und über die Stadt blickte. Sie wirkte überrascht, als sie uns sah.
    »Sie sieht aus wie ein Gemälde von Rossetti«, sagte Felicity. »Nur der edle Jüngling fehlt.«
    Ich lachte. Laure sah wirklich wunderhübsch aus. Niemand würde es wagen, meiner hellhäutigen, goldhaarigen Schwester das Stiefel-ohne-Knöpfe -Lied ins Gesicht zu summen.
    »Fertig für heute?«, fragte ich sie, als wir fast bei ihr waren.
    Laure

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