Das Geheimnis der Herzen
stand auf und stieß Laure beiseite.
»Ich habe nicht mit Ihnen geredet, sondern mit der armen Laure, die sich vergeblich bemüht«, sagte er.
Auf den Stufen des Redpath blieb die Zeit stehen. Die Sonne war jetzt so grell, dass sich in meinem Gesichtsfeld schwarze Löcher auftaten. Huntley grinste und reckte mir das Kinn entgegen. Laure betrachtete eingehend ihre Schuhe.
»Sie und Laure kennen sich?«
Huntley nickte. »Ich habe erst gestern erfahren, dass Sie beide Schwestern sind. Die Familienähnlichkeit springt nicht gerade ins Auge.«
»Huntley hat gefragt, ob er mich nach Hause bringen darf«, sagte Laure rasch. »Großmutter hat es ihm erlaubt.«
»Großmutter weiß es?« Die Löcher in meinem Gesichtsfeld wurden immer größer. Ich nahm die Brille ab und rieb heftig an den Gläsern herum. »Entschuldigung«, sagte ich und lehnte mich schwer ans Geländer. »Die Sonne blendet mich.« Ich wischte mir die Stirn, packte die Zeitungen und meine Bücher zusammen und lief die Treppe hinauf.
An der Tür des Redpath Building drehte ich mich noch einmal um. Laure und Huntley befanden sich jetzt auf halber Höhe des Hanges, neben einer Eibe. Meine Schwester hatte sich bei Huntley untergehakt, und er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Laure lachte und warf den Kopf zurück, sodass ihre Haare in der Sonne aufleuchteten. Felicity hätte gegrinst, wenn sie sie gesehen hätte: die schöne Laure und der schöne Huntley, vereint in diesem traulichen Tableau.
6
April 1890
F elicitys Nase war wegen der Sonne mit Sommersprossen gesprenkelt. Wir hatten beide nicht daran gedacht, Hüte mitzunehmen, und unsere winterweiße Haut sog begierig das Licht auf, als wir von der Sherbrooke Street aus bergauf marschierten.
»Ein Rotkehlchen«, sagte Felicity und zeigte darauf.
Ein kleiner Vogel mit roter Brust pickte in dem durchweichten Rasen herum. Ich hätte mich über diesen Frühlingsboten freuen sollen. Der Schnee war seit zwei Wochen verschwunden, und an den Büschen und Bäumen sah man zarte Knospen. Montreal erwachte zum Leben, aber ich hätte mich am liebsten in einer Ecke verkrochen, die Augen zugemacht und geschlafen.
»Mein erstes in diesem Frühjahr«, setzte Felicity keuchend hinzu, denn die Mountain Street stieg jetzt immer steiler an.
Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. Sie wollte mich nur davon ablenken, dass mein Leben gerade kaputtgeschlagen worden war. Wir kamen aus Dekan Laidlaws Büro in der medizinischen Fakultät. Am Morgen waren wir so hoffnungsvoll zu dem Gesprächstermin gegangen, dass uns der Himmel, die Sonne und die kräftigen Frühlingsgerüche vorkamen wie Zeichen, dass nichts schiefgehen konnte. Jetzt erschien mir die Schönheit des Frühlings eher wie ein schlechter Witz.
Die letzten drei Wochen hatte ich so hart gearbeitet wie noch nie im Leben. Felicity Hingston und ich waren die Hauptorganisatorinnen einer Initiative, die von den Zeitungen als »die neueste Frauenkampagne« bezeichnet wurde. Das entbehrte insofern nicht der Ironie, als ich im Grunde für Frauen nicht viel übrig hatte. Sie waren flatterhafte, alberne Wesen, auf die ich nie in irgendeiner Weise angewiesen sein wollte. Dass ich eine Frau war, erschien mir reiner Zufall, ein Versehen.
Beim ersten Gespräch hatte sich der Dekan der Medizin so deutlich ausgedrückt, wie er nur konnte: Unter gar keinen Umständen würde mich die McGill zusammen mit Männern Lehrveranstaltungen besuchen lassen. Das hatte mich nicht überrascht. Ich stellte sofort einen entsprechend abgeänderten Antrag. Könnte sich die McGill vorstellen, separate medizinische Lehrveranstaltungen für Frauen einzurichten? Dekan Laidlaw antwortete, das sei zwar grundsätzlich möglich, aber aus Kostengründen nicht machbar.
Ich bat um eine Zahl.
In nur drei Wochen hatten Felicity Hingston, eine Gruppe von Damen der Gesellschaft unter der Führung von Mrs W. H. Drummond, der Frau eines bekannten Montrealer Arztes, und ich Spenden in Höhe von hundertfünfzigtausend Dollar aufgetrieben. Das war eine beträchtliche Summe, die uns noch mehr verblüffte, als sie den Dekan verblüffen würde. Aber es war noch nicht die astronomische Viertelmillion, die die McGill forderte. Heute waren wir beim Dekan gewesen, um eine Fristverlängerung zu erbitten.
Dr. Laidlaw hatte uns fast eine Stunde warten lassen. Schließlich hatte er seine Sekretärin herausgeschickt, die uns mitteilte, hundertfünfzigtausend seien nach wie vor nicht genug. Wenn wir nicht bis zum nächsten Tag,
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