Das Geheimnis der Herzen
»Das hast du mir gar nicht gesagt.«
»Du kannst ihn nicht leiden.« Laures Blick wanderte wieder umher.
»Er war draußen auf den Stufen, mit einem Glimmstängel.«
»Agnes!«, sagte Großmutter warnend. Sie missbilligte unfeine Wörter, aber ihre Warnung beschränkte sich nicht darauf. Sie wusste, was ich von Huntley Stewart hielt, und fand mich illoyal.
Wie auf ein Stichwort steckten Huntley und Andrew Morely die Köpfe zur Tür herein. Das Dienstmädchen lief aufgebracht zu ihnen hin, aber Mrs Drummond schickte es fort und bat die beiden Männer persönlich herein. Ich war perplex. Bei unseren Treffen galt die Regel: keine Journalisten. Was in der Presse erschien, musste strikt kontrolliert werden.
Huntley schaute zu Laure und mir herüber und wink te. Dann machte er, an meine Schwester adressiert, eine thea tralische Verbeugung: Er schloss die Augen und vollführte mit der Hand kreisende Bewegungen vor der Stirn, wie ein Höfling.
Er erregte ziemlich viel Aufsehen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, auch meine, aber durch ein kleines Klirren wurden wir von ihm abgelenkt. Es war Mrs Drummond, die mit dem Löffel an ihre Teetasse klopfte.
»Ruhe bitte!«, rief sie. Ich mochte Mrs Drummond inzwischen. Sie war eine zupackende Person mit viel gesundem Menschenverstand, aber wenn sie Reden hielt, fing sie an zu näseln und hatte plötzlich einen britischen Akzent. »Ruhe, bitte«, wiederholte sie. »Ich bitte um Ruhe im Saal!«
Mir krampfte sich der Magen zusammen. Gleich würde sie mir das Wort erteilen, und ich war gezwungen, mein Scheitern einzugestehen. Damit enttäuschte ich mindestens die Hälfte der Frauen auf der Insel von Montreal. Felicity Hingston stand hinter Mrs Drummond und wirkte erstaunlich unbesorgt. Ich versuchte, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen, aber sie wollte einfach nicht herschauen.
»Wir sind hier versammelt zu Ehren einer außergewöhnlichen jungen Dame«, sagte Mrs Drummond. Dezenter Applaus ging durch den Raum. »Sie hat sich Großes vorgenommen, und so außergewöhnlich sie auch sein mag, hätte sie doch allein ihr Ziel niemals erreichen können.« Flüstern war zu hören und verhaltenes Lachen.
»In der Gemeinschaft, meine Damen, liegt die Kraft. In der Solidarität.« Jetzt wurde begeistert geklatscht. Mrs Drum mond musste in der Luft herumfuchteln wie ein Dirigent, um wieder Ruhe herzustellen. »Ohne die Hilfe jeder Einzelnen hier, ganz gleich, ob sie dem Organisationskomitee angehörte, unterwegs war, um Spenden zu sammeln, ob sie Briefe geschrieben oder einfach nur ihren Mann so lange bearbeitet hat, bis er einen Scheck ausstellt – ohne Sie alle hätte der Traum dieser jungen Frau niemals Gestalt annehmen können.«
Ich sah zu den beiden Männern hinüber. Andrew Morely schrieb auf einem Block mit, aber viel mehr beunruhigte mich Huntley Stewart. Er lehnte an der Wand und betrachtete seine Fingernägel, als könnte nichts von dem, was Mrs Drummond sagte, berichtenswert sein. Im Moment waren seine Hände untätig, aber ich hatte die schreckliche Vision, dass sie schlagartig aktiv wurden, sobald er das Ergebnis meines jüngsten Gesprächs mit dem Dekan erfuhr.
»In den letzten drei Wochen«, fuhr Mrs Drummond fort, »haben wir Schwerstarbeit geleistet. Vor allem Agnes White, denn sie musste nicht nur ihre Prüfungen bewältigen, sondern auch eine Menge Versammlungen, Hausbesuche und Korrespondenz. Sie hat Journalisten Interviews gegeben« – hier deutete sie zu den männlichen Gästen hinüber – »und musste mit dem leben, was diese dann geschrieben haben, gleichgültig, ob es verletzend oder schmeichelhaft war. Und es hat sich gelohnt!« Sie kam offenbar zum Schlussteil ihrer Rede, und ihre Stimme senkte sich um eine Oktave. »Nach dem Stand von heute Vormittag ist eine Summe von einhundertfünfzigtausend Dollar zusammengekommen – in nur drei Wochen. Das ist ein erstaunliches Maß an Unterstützung durch die Bürgerinnen und Bürger Montreals. Es ist ein Vertrauensbeweis für Agnes White und ein Zeichen dafür, dass die Frauen und Männer in dieser Stadt für den Wandel bereit sind.«
Wieder brach Beifall aus, aber ich konnte nicht mitklatschen. Ich verstand nicht, warum Mrs Drummond so triumphierte. Sie wusste doch, dass die Summe nicht genügte und ich für den Rest um einen Aufschub gebeten hatte!
Mrs Drummond fuhr im selben beschwingten Ton fort: »Aber wir brauchen weitere hunderttausend Dollar, um die Forderung der McGill zu erfüllen.« Es war Wahnsinn.
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