Das Geheimnis der Herzen
Zeitungen waren voll mit Rückblicken und mit hoffnungsvollen Prognosen. Die Begeisterung war ansteckend. In meiner kleinen Ecke im zweiten Stock der medizinischen Fakultät an der McGill spürte auch ich die Veränderung. Die pathologische Sammlung wuchs. Ich hatte etwa drei Viertel der Präparate identifiziert und klassifiziert, eine Leistung, die Dr. Clarke als ein Wunder bezeichnete. Aber mit einem Wunder hatte das nichts zu tun. In den letzten sechs Monaten hatte ich unermüdlich geschuftet, war schon Stunden, bevor die Vorlesungen anfingen, ins Museum gekommen und bis spätabends dageblieben. Als der Gemeinschaftsraum der Professoren renoviert wurde, erbte ich ein Sofa, auf dem ich nun gelegentlich übernachtete. Dr. Clarke und die anderen wären entsetzt gewesen, wenn sie das erfahren hätten, aber sie kamen immer zu spät, um es zu merken.
Meine Pflichten schienen zu expandieren wie ein organisches Gewächs. Ich musste Präparate etikettieren, einschließlich der neuen, die täglich vom Montreal General Hospital und vom Royal Vic Hospital eintrafen, was das Chaos natürlich vergrößerte. Und seit September unterrichtete ich auch noch.
Ich begann damit, ohne es richtig zu merken. Zwei Studenten kamen vorbei, um sich nach dem Howlett-Herzen zu erkundigen. Sie studierten bei Dr. Mastro und waren in seinem Physiologiekurs eingeschrieben. Ich zeigte ihnen noch ein paar andere Präparate, erklärte Funktionen und Anomalien. Am nächsten Morgen kamen die beiden wieder und brachten ihre Freunde mit. Bald darauf traf ich mich mit der Hälfte der Teilnehmer von Dr. Mastros Kurs. Dadurch konnte ich mich natürlich meinen anderen Pflichten weniger intensiv widmen, und als die Krankheit meiner Großmutter ihren Höhepunkt erreichte, waren diese Kurse eine zusätzliche Belastung, aber sie machten mich zugleich unsäglich froh. Ich stellte einen Stundenplan auf, damit immer höchstens fünf Studenten auf einmal kamen. Außerdem kochte ich stets Tee für sie, weil es im Museum extrem zugig war und weil die Diskussionen so lange dauerten. Ja, ich bot ihnen sogar Kekse an.
Am Ende des Semesters überreichten mir Dr. Mastros Studenten einen Umschlag. Ich war so tief gerührt, dass ich vor ihnen in Tränen ausbrach, weil mir plötzlich bewusst wurde, dass ich an der McGill unterrichtete, genau wie mein Vater es getan hatte. Und wie William Howlett, der Mann, der meinen Vater als Mentor gehabt hatte.
Ich liebte diese Arbeit. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, Geld dafür zu verlangen. Ich verdiente genug, um davon zu leben, und was noch wichtiger war: Ich verfügte inzwischen auch über eine großzügigere Finanzierung für das Museum allgemein. Howlett steuerte Geld bei. Er schickte es an den Dekan, eindeutig für mich gekennzeichnet. Es war ein Scheck, der für die Erhaltung der Sammlung gedacht war und meiner Einschätzung nach fünf Jahre lang den Bedarf decken würde. Im November hatte ich einen Mann beauftragt, das Fenster auszuwechseln, außerdem ließ ich elektrisches Licht installieren. Mein Arbeitsraum war jetzt warm und hell.
Die Regale, auf denen am Anfang solch ein Durcheinander geherrscht hatte, waren inzwischen ordentlich aufgeräumt. Jedes Glas stand mit einer Handbreit Abstand neben dem nächsten und besaß ein getipptes, detailliertes Etikett. Die McGill-Sammlung enthielt ganz verschiedene Präparate, von einem enormen Haarknäuel in Form eines menschlichen Magens bis zu dem derben, mit Pilz infizierten Kiefer einer Kuh. Beide Präparate gingen auf meinen Vater zurück, wie ich kürzlich herausgefunden hatte. Die Haarkugel war mein Liebling – eine zufällige Entdeckung bei einer Autopsie, die er in den 1860ern vorgenommen hatte, und zwar an einer geisteskranken Frau, die sich zwanghaft die Haare ausgerissen und sie gegessen hatte. Das Ganze war so bizarr, dass er seinen Fund unbedingt in einem Glas ausstellen wollte. Jedenfalls malte ich mir aus, dass es so gewesen sein musste, da der pädagogische Effekt dieses Präparats doch eher beschränkt war. Es gab kein Etikett, das mitteilte, auf welchen Mediziner es zurückging, doch Howlett hatte mich in das Geheimnis eingeweiht.
Die schriftlichen Unterlagen, die die Beiträge meines Vaters dokumentierten, waren entfernt worden, oder man hatte seinen Namen herausgeschnitten. Wenn bei älteren Präparaten das Etikett fehlte oder eindeutig falsch war, ging ich in der Regel davon aus, dass es sich um seine Arbeit handeln musste. Das war zwar immer nur
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