Das Geheimnis der Herzen
ihrem Alter wächst eine Krebsgeschwulst in der Regel sehr langsam, aber dieser Tumor war schon so groß, dass er ihr Schmerzen bereitete und sie eine schwere Verstopfung bekam.
Ich vergoss nicht viele Tränen bei der Beerdigung, im Gegensatz zu Laure, die so bitterlich schluchzte, dass sie noch vor der Trauerrede an Huntleys Arm die Kirche verlassen musste. Die Leute hielten mich bestimmt für gefühllos, für unnatürlich verhärtet durch meinen Beruf, aber in Wirklichkeit konnte ich einfach nicht richtig begreifen, dass Großmutter tot war. Der Verlust war noch nicht bis zu mir durchgedrungen.
Am Tag nach dem Begräbnis ging ich am Morgen in die Küche, um zu frühstücken. Unsere Küche in der Priory war groß, auf den Regalen standen Steinguttöpfe für Mehl und Zucker sowie mehrere Kessel mit Kupferboden, die blitzblank gescheuert waren. Alles sauber und an seinem Platz. Und mir war diese Umgebung so vertraut, sie war so ganz und gar Ausdruck meiner Großmutter, dass ich laut ihren Namen sagen musste.
Es gab also viele gute Gründe, weshalb ich das Howlett-Herz bis zum Winter vernachlässigte. Ich schob die Sache vor mir her, Monat für Monat, aber ich wusste, dass ich mich eines Tages daranmachen musste. Das Herz war mein Spitzenexponat, nachdem jetzt auch noch mein Artikel veröffentlicht worden war: William Howlett hatte nämlich vorgeschlagen, dass ich über das Herz schreiben sollte, und hatte sogar einen Verlag gefunden. In der Tat war dieses Herz etwas ganz Besonderes. Es wich vollkommen von der Norm ab. Auf der ganzen Welt gab es nur zwei Präparate dieser Art. Das andere Herz befand sich in London, wie ich inzwischen herausgefunden hatte. Ein Pathologe hatte mir geschrieben, nachdem mein Artikel erschienen war. Die Kollegen in Montreal, die bisher nicht einmal grüßend genickt hatten, wenn wir uns auf den Fluren begegneten, blieben jetzt stehen und erkundigten sich danach. Die Anerkennung ging sogar über die Fakultät an der McGill hinaus. Meinen Namen kannten inzwischen Mediziner in den Vereinigten Staaten, in England und im übrigen Europa. Howlett hatte dafür gesorgt, dass meine erste Veröffentlichung in einer angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift erschien, die überall gelesen wurde.
Jedes Mal, wenn ich Leute hereinführte, die das Präparat betrachten wollten, schämte ich mich. Es war eins der größten Herzen in der Sammlung. Genau deswegen waren vermutlich die Glasröhrchen, die es stützten, weggerutscht. Es hing schief an einem einzigen Faden und sah finster und verwest aus. Das Formalin, in dem es schwamm, war trüb und gelb wie konzentrierter Urin. Seit Monaten hatte ich einfach nicht genug Muße gefunden, um mich damit zu beschäftigen. Jetzt war Zeit kein Problem mehr: Ich hatte wegen des Todesfalls eine ganze Woche frei. Vor zwei Tagen hatten Laure und ich unsere Großmutter in dem Familiengrab gleich hinter der Kirche von St. Andrews East beigesetzt. Dieses Grab hatte ihr Schwiegervater 1822 erstanden. Meine Mutter lag dort begraben, genau wie mein Großvater, den ich nie kennengelernt hatte. Der Schnee war so hoch, dass man die Grabsteine mit ihren Namen kaum noch sehen konnte.
Was für eine Erleichterung, wieder in Montreal zu sein, fort von den anderen Trauernden! Laure war noch in St. Andrews East geblieben und kümmerte sich um die Priory, wo wir beide übernachtet hatten, nur jetzt in getrennten Schlafzimmern. Laure und Huntley hatten unser altes Zimmer übernommen, während ich in dem Raum schlief, der von der Küche abging und in dem früher Miss Skerry gewohnt hatte. Auf keinen Fall wollte ich in Großmutters Zimmer schlafen, in dem Bett, in dem sie gestorben war. Wir hatten ihre Leiche dort liegen lassen, als eine Art informelle Aufbahrung, ehe der Bestatter kam. So winzig klein hatte sie ausgesehen, als sie da lag, wie ein Kind.
Eine ihrer Cousinen war gekommen, um sie in den letzten Lebenswochen zu pflegen. Das war die beste Lösung, denn zu dieser täglichen Pflege wäre Laure nicht fähig gewesen, und ich konnte meine Arbeit auch immer nur kurz im Stich lassen. St. Andrews East und das Leben, das ich früher geführt hatte, erschienen mir jetzt unglaublich weit entfernt. Ich hatte ein neues Zuhause und ein neues Leben, eine Situation, die durch Großmutters Krankheit noch unterstrichen wurde.
Insgesamt begann eine neue Ära. Während Großmutter auf dem Sterbebett lag, wurde das zwanzigste Jahrhundert geboren. Es hatte Reden und Paraden gegeben. Die
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