Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
Vom Netzwerk:
in mein Glas.
    Howlett brach in schallendes Gelächter aus. »Immer schön langsam. Sie müssen nicht alles auf einmal in sich hineinkippen.«
    Er schwenkte sein Glas, sodass ein regelrechter Tornado entstand. Dann schnupperte er mit geschlossenen Augen daran.
    Als ich es ihm nachmachte, lachte er wieder. »Sie lernen schnell, nicht wahr, Dr. White? Sie sind für fast alles offen.«
    Er beugte sich vorwärts, so nahe zu mir, dass er flüstern konnte. Und dann erzählte er mir die Geschichte des Herzens. Es war, als hätte ich eine Prüfung bestanden. Er hatte Maß genommen, nach Kriterien, die nur er selbst kannte, und er hatte mich für würdig befunden. Der Patient, sagte er, sei ein Notar gewesen, ein Mann, der meistens im Sitzen arbeitete, was vielleicht seine relative Langlebigkeit erklärte. Zwischen dreißig und vierzig hatte er Schmerzen in der Brust bekommen und war ins Montreal General Hospital eingeliefert worden. Das war 1872. Howlett studierte noch, aber man erlaubte ihm, bei der ersten Untersuchung zu assistieren. Diese hatte allerdings nichts ergeben, außer einer leichten Zyanose bei Belastung und Schmerzen in der Brust. Kein ungewöhnliches Rasseln oder Pfeifen in der Thoraxhöhle beim Abhören. Keine anomale Atmung. Als der Patient einen Monat nach diesem Krankenhausbesuch starb, wollte Howlett unbedingt bei der Autopsie dabei sein.
    »Es wurde nie ein Bericht darüber geschrieben«, erinnerte ich ihn. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Stunden ich damit verbracht habe, die Literatur zu durchkämmen.«
    »Reine Zeitverschwendung«, sagte Howlett. »Es gab einen Bericht, aber den können Sie gar nicht finden.«
    Ich musterte ihn prüfend, vermochte seinen Gesichtsausdruck aber nicht zu entschlüsseln. Er klang trotzig, fast stolz.
    »Der Bericht wurde nie veröffentlicht.«
    »Aber es ist doch so ein wichtiger Fall!«, protestierte ich. »Die Zeitschriften hätten sich darauf gestürzt.«
    »Unter normalen Umständen mag das sein«, sagte Howlett und schwenkte dann schweigend seinen Brandy, sodass wieder kleine Wellen entstanden. »Der Arzt, der den Bericht geschrieben hat …«, erneut machte er eine Pause und warf mir einen kurzen Blick zu, »… geriet in Schwierigkeiten.«
    Jetzt fügten sich die Teile zu einem Ganzen zusammen. Howlett hatte ja schon erzählt, dass er als Student vor allem einen Mentor hatte, an den er sich heftete wie ein Schatten.
    »Mein Vater«, murmelte ich leise.
    Howlett nickte. »Honoré Bourret hat die Autopsie vorgenommen.«
    Ich richtete mich auf. Viele Wochen lang war ich also von etwas besessen gewesen, das früher ihm gehört hatte. Ich hatte es meilenweit mit mir herumgeschleppt, ohne auch nur den geringsten Verdacht zu haben. Ich beugte mich vor, um das Glas mit seinem Präparat noch einmal genau zu studieren. Doch im Schein der Lampe konnte ich nur das Herz erkennen, das sich in der Flüssigkeit bewegte wie eine geschlossene Faust.

13
    Januar 1900
    A ls meine Nadel das Herz durchstach, stieß sie auf Widerstand. Ich hatte es mir weich vorgestellt, eine schwammige Masse, die unter der Berührung möglicherweise zerfallen würde, aber es war ziemlich fest. Seit meiner Rückkehr aus Baltimore hatte diese Aufgabe ganz oben auf einer langen Liste gestanden. Doch dann waren verschiedene Ereignisse dazwischengekommen und hatten mich daran gehindert, die Sache in Angriff zu nehmen.
    Es gab viel zu tun, und die Ansprüche an mich wuchsen. Großmutter war krank geworden, und ich musste mich in St. Andrews East um sie kümmern. Sie war fünfundneunzig, zäh und unabhängig. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sie nicht ewig leben würde. Im Laufe der Jahre war sie langsamer geworden, doch bis zum Schluss machte sie dienstags die Wäsche, putzte am Mittwoch das Silber, während der Freitag dem Backen vorbehalten war. In dem Sommer, als ich aus Baltimore zurückkam, konnte sie sich zum ersten Mal nicht um den Garten kümmern. Das war eine Arbeit gewesen, die sie über alles liebte. Immer hatte sie für exzellente Tomatensauce und für eingelegte Rote Bete gesorgt, die sie mir dann nach Montreal mitgab – in Gläsern, die ich früher für völlig andere Zwecke verwendet hatte. Sie klagte nie über ihre Gesundheit. Letztlich war es der ungepflegte Garten, der ihren Zustand verriet. Als wir den Arzt riefen, bestätigte sich mein Verdacht. Was sie als Verdauungsstörungen abgetan hatte, war in Wirklichkeit ein Darmtumor in fortgeschrittenem Zustand. Bei Patienten in

Weitere Kostenlose Bücher