Das Geheimnis der Herzen
Blechdose hin und her drehte, bis er sie schließlich öffnete und sich etwas in den Mund steckte. Dabei wirkte er eigentlich nicht nervös. Er lutschte und schaute sich merkwürdig ziellos um. Wahrscheinlich wäre er noch ewig so stehen geblieben, wenn ich ihn nicht noch einmal angesprochen hätte.
»Was ist das?«
»Was?« Seine Stimme war tiefer, als ich erwartet hatte. Eindeutig keine Knabenstimme.
»Das, was Sie sich gerade in den Mund gesteckt haben.«
»Ach so«, sagte er und hielt mir die Dose hin. »Lakritz aus Holland. Möchten Sie eins?«
Ich nahm die Dose und schüttelte mir ein Lakritzbonbon auf die Hand. Es war winzig, hart und pechschwarz.
»Ich versuche, das Rauchen aufzugeben. Aber mein Mund vermisst die Zigaretten.«
»Wann fangen Sie an zu arbeiten?«, fragte ich so neutral, als würden wir uns über eine Stelle auf dem Markt unterhalten und nicht über eine Position in meinem Museum.
»Jetzt.« Er schob sich noch ein Lakritz in den Mund.
Es gab keinen Ausweg. Durch das Lakritz merkte ich, wie durstig ich war, also fragte ich Jakob, ob er eine Tasse Tee trinken wolle. Er nahm mein Angebot an und trank so langsam, als wäre der Tee etwas Besonderes, das man bewusst genießen musste.
Als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, wies ich ihm eine Aufgabe zu. Nichts Kompliziertes. Als Erstes sollte er irgendwelche Sachen sortieren. In den nächsten Tagen wollte ich ihn testen, nahm ich mir vor, und stufenweise den Schwierigkeitsgrad steigern. Wenn er einen Fehler machte, und sei er auch noch so geringfügig, würde der Dekan sofort davon erfahren. Verrückt sein, das ging ja noch. Aber Inkompetenz konnte ich nicht dulden.
Nach einer Stunde kam er zu mir. Er hatte so still in seiner Ecke gehockt, dass ich mich ebenfalls hingesetzt und zu arbeiten begonnen hatte. »Schon fertig?«, fragte ich. Das war völlig unmöglich!
Er schüttelte den Kopf. »Nein, aber mir ist etwas aufgefallen.«
Seine Direktheit war rührend. Er schaute zur Wand. »Da drüben.«
Meine Augen folgten seinem Blick. Er schaute zu der beschrifteten Zeichnung eines Herzens, die ich aufgehängt hatte, um einen Riss im Verputz zu überdecken. Die Zeichnung hatte mir noch nie besonders gefallen: Aorta, Lungenarterie, Vorhöfe und Kammern des Herzens waren in grellem Rosarot koloriert.
»Das passt nicht«, sagte er nur.
»Wie bitte?«
Die Hände in den Taschen vergraben, sah er aus wie ein Professor, der gleich zu dozieren beginnt. »Ich habe früher hier studiert«, erklärte er. »Ich kenne dieses Plakat, und es hat mich schon immer gestört. Zu meiner Zeit hing es in der Bibliothek.«
»Die Farben sind scheußlich«, stimmte ich ihm zu.
»Es sind nicht die Farben, die mich irritieren – obwohl es wirklich kriminell ist, dieses Rosarot neben die grünen Venen zu setzen.«
Ich musste lachen. Jakob Hertzlich hatte Humor.
»Es ist was Schlimmeres«, fuhr er fort. »Sehen Sie sich die Lungenarterie an.«
Ich kniff die Augen zusammen.
»Der Künstler war nicht nur farbenblind, er muss auch auf dem Kopf gestanden haben.«
Tatsächlich. Die Aorta war da, wo eigentlich die Lungenarterie hätte sein müssen. Ich schaute Jakob verwundert an. Wie viele Monate hatte ich hier unter dem Plakat gearbeitet, ohne dass mir dieser eklatante Fehler aufgefallen war? Der Zeichner war nicht der Einzige mit schlechten Augen.
16
September 1900
I m Herbst, gleich zu Beginn des neuen Semesters an der McGill, traf ich vor dem Dozentenraum der medizinischen Fakultät auf Dr. Rivers. Er hatte ein Forschungsstipendium in der Pathologie bekommen, was ihm ermöglichte, gleichzeitig an der McGill zu lehren und im Montreal General Hospital zu arbeiten. Sein Gehabe war noch militärischer als bei unserer letzten Begegnung. Die Haare hatte er sehr kurz geschnitten, und seine für einen so großen Mann verblüffend schmalen Schultern waren stocksteif und gerade. Vor Kurzem erst war er von einem einjährigen Militäreinsatz zurückgekommen. Er habe mit der Geschützgruppe D der kanadischen Feldartillerie gegen die Buren gekämpft, erzählte er mir mit seiner seltsam hohen Stimme.
In der Zeitung hatte ich vom Burenkrieg und von den Protesten der französischen Studenten in Montreal gelesen. Ich war eindeutig auf der Seite der Demonstranten, musste ich zugeben. Was fiel Großbritannien ein, seine Nase in die Angelegenheiten eines Landes zu stecken, das so weit entfernt war wie Südafrika? Mit welcher Begründung konnten Kanadier wie Dugald
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