Das Geheimnis der Herzen
Rivers eingezogen werden, um irgendwo in der Ferne ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Rivers sah darin kein Problem. Als er seinen Dienstgrad nannte, klang er richtig stolz, während ich überhaupt nichts mit diesen Begriffen anzufangen wusste. »Geschützgruppe« klang gewalttätig, und »Feld« ließ mich eher an die Farmen rund um St. Andrews East denken. Ich unterbrach seine Soldatengeschichten und lud ihn zum Tee ein. Er sei im Museum stets willkommen, sagte ich, gleichgültig an welchem Tag und zu welcher Stunde. »Bitte, schicken Sie mir alles, was Sie in der Leichenhalle für mich ergattern können. Halten Sie die Augen offen.«
Zum ersten Mal besuchte mich Dr. Rivers Ende September im Museum. Es war ein besonders warmer Tag, an dem alle Leute vergaßen, dass der Winter vor der Tür stand. Ich öffnete die obere Hälfte des großen Fensters. Sonnenlicht flutete in den Raum und tauchte alles in matten Goldglanz. Tauben gurrten im Gebälk unterhalb des Dachvorsprungs. Rivers trug in der einen Hand einen Karton mit Gebäck, in der anderen einen Eimer. Er trat über die Türschwelle, wich aber einen Schritt zurück, als Jakob und ich uns zu ihm um drehten und ihm bewusst wurde, dass er ja noch nicht he reingebeten worden war. Ich erhob mich schnell, um ihn zu begrüßen.
Er blieb im Türrahmen stehen, beschienen vom goldenen Licht. Mit seinen kurzen Haaren und dem erwartungsvollen Lächeln auf dem Gesicht sah er gar nicht aus wie ein ernsthafter Pathologe. Als er hier ankam, hatte er bei den Krankenschwestern für einigen Aufruhr gesorgt. Er sah gut aus, das war nicht zu leugnen: kastanienbraune Haare und eine erstaunlich reine, helle Haut. Außerdem trat er mit einer gewissen Autorität auf, wofür Frauen ja oft eine Schwäche haben. Aber irgendetwas fehlte, fand ich. Bei mir lag es nicht am Äußeren eines Mannes, wenn ich aufblickte, sobald er den Raum betrat. Es ging um etwas anderes, um eine bestimmte Energie, die auch in einem mickrigen, hässlichen Körper stecken konnte. Was immer es mit dieser Energie auf sich hatte – Rivers besaß sie nicht. Mir fiel auf, dass ich im Umgang mit ihm völlig unbefangen war. Vielleicht war das der Grund, warum er aus der großen Schar von Frauen, die ihn in seinem ersten Herbst in Montreal umschwärmten, ausgerechnet mit mir Freundschaft schloss.
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, verkündete er und stellte mit Schwung den Eimer auf meinen Schreibtisch.
Jakob Hertzlich und ich spähten hinein. Ein frisch entnommenes Herz schwamm darin in seinem Saft.
»Ich komme direkt aus der Leichenhalle«, sagte Rivers. »Ich dachte, zu Fuß ist man am schnellsten hier.«
Normalerweise ignorierte Jakob alle Fremden und ließ sich nicht bei seiner Arbeit stören. Aber heute machte er eine Ausnahme.
»Heißt das, Sie sind vom Krankenhaus hierhergelaufen?«, fragte er, sichtlich beeindruckt. Die Leichenhalle befand sich in einem Anbau des General Hospital, an der Ecke Dorchester und St. Dominique Street, also gut zwanzig Fußminuten von hier entfernt.
Ich musste lachen.
»Ja, mit einer kurzen Unterbrechung«, sagte Rivers und hob die Gebäckschachtel hoch.
»Sie waren unterwegs noch einkaufen?«, fragte ich. »Und niemand hat gesehen, was in dem Eimer ist?«
Rivers grinste verschmitzt. »Doch, eine Dame hat reingeschaut. Sie dachte, es sei ein Rinderherz, und hat mir ein Rezept für Innereienpastete gegeben.«
Mir tat der Bauch weh vor Lachen. Jakob schmunzelte nur. Mit dem Finger stupste ich an das Geschenk, das sehr groß und rot war. Nach der Größe zu urteilen musste es das Herz eines erwachsenen Mannes sein, sorgfältig obduziert, damit man die Läsion genau erkennen konnte.
»Vorhof-Septumdefekt«, stellte ich fest und nickte. »Ausgezeichnetes Beispiel dafür.«
Rivers nahm das Lob mit vornehmer Gelassenheit entgegen. »Ich habe den Autopsiebericht und eine Patientenanamnese für Sie«, sagte er. »Ich finde, dieses Exemplar hier ist wirklich mustergültig. Es grenzt an ein Wunder, dass der Mann überhaupt die vierzig erreicht hat. Bis vor ein paar Tagen hatte ich keine Ahnung von seinem Problem, bis plötzlich der Blutdruck nach oben schoss.«
»Vorhofdefekte können heimtückisch sein«, stimmte ich ihm zu. »Das einzige Anzeichen ist meistens der Blutdruck. Kammer-Septumdefekte erkennt man immer gleich am Herz geräusch.«
»Stimmt genau.«
Nun war es an mir, Gelassenheit zu zeigen. »Jedenfalls weiß ich genug, um vorherzusagen, dass dieses Exemplar hier bald
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