Das Geheimnis der Herzen
Eltern hatten in ihrem neuen Leben alles, was sich ein junges Paar nur wünschen kann.« Er stellte seine Tasse auf den Tisch und schaute mich an. »Alles, außer einem passenden Sohn, heißt das.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber Jakob wollte sowieso weitererzählen. Ich konnte nur zuhören.
»Als ich auf die Welt kam, hat mein Vater damit gerechnet, dass sein Sohn so ähnlich werden würde wie er selbst. Dass sein Sohn in seine Fußstapfen treten und später, wenn er alt war, das Geschäft übernehmen würde. Ich war ein schüchternes Kind. Ein Träumer. Mein Vater und ich waren grundverschieden. Er und Craina wollten unbedingt noch mehr Kinder, aber aus irgendeinem Grund klappte es nicht. Als ich sieben oder acht war, widmete mein Vater seine ganze Aufmerksamkeit ausschließlich mir.
Wahrscheinlich sollte ich es als Kompliment betrachten. Er weigerte sich, die Hoffnung aufzugeben, dass ich doch noch so werden könnte, wie er es sich vorstellte. Aber diese Hoffnung hatte wenig mit mir zu tun, mit dem, wie ich war. Mein Vater war ein Geschäftsmann, und wenn seine Arbeit ihn irgendetwas gelehrt hatte, dann, dass sich Zähigkeit auszahlt. Er zwang mich, im Sommer in der Fabrik zu arbeiten, um mir auf diese Weise ein bisschen gesunden Menschenverstand einzuimpfen. Er bezahlte mir Boxunterricht. Boxunterricht, Agnes! Ich im Ring – können Sie sich das vorstellen? Ich muss ausgesehen haben wie eine Witzfigur, mit diesen dicken Handschuhen. Als das alles fehlschlug – was unvermeidlich eintrat –, drängte mein Vater mich zu studieren. Medizin war ein Gebiet, auf dem ein Jude es weit bringen konnte. So wie mein Vater in der Geschäftswelt.«
Wie sich herausstellte, war die Medizin ein Fach, das zu Jakob Hertzlich passte. Obwohl es an der McGill eine Quote für Juden gab, wurde er zugelassen. Er war besonders fleißig, gewann Preise und Auszeichnungen und wurde von allen Professoren respektiert. Er erfüllte die Erwartungen seines Vaters, aber gleichgültig, wie sehr er sich anstrengte, egal, wie viele Medaillen oder schön gebundene Bücher er verliehen bekam – Otto Hertzlich war nie zufrieden.
»Eines Morgens bin ich mit einem seltsamen Gefühl aufgewacht«, sagte Jakob. »Es war ein Gefühl, als wäre in meinem Inneren plötzlich ein Vorhang aufgegangen. Mein Vater würde nie zufrieden sein.« Er trank noch einen Schluck Champagner. »An dem Tag blieb ich sehr lange im Bett. Am nächsten Tag ebenfalls. Ein Arzt kam und verschrieb mir Beruhigungsmittel und sagte zu meinen Eltern, die Strapazen des Studiums seien möglicherweise für einen so empfindlichen Jungen wie mich zu viel. Meine Mutter glaubte, ich hätte einen Nervenzusammenbruch. Mein Vater hielt es für Trotz. Aber ich«, sagte er mit Stolz in der Stimme, »ich weiß, es war der Tag, an dem ich endlich aufgewacht bin. Der Tag, an dem mein Leben anfing.«
Für mich war es unvorstellbar, wie jemand ein Medizinstudium aufgeben konnte, vor allem, wenn er an der McGill zugelassen worden war. »Sie wären ein genialer Arzt geworden. Sie hatten es doch schon fast geschafft.«
Jakob Hertzlich lachte und trank die letzten Tropfen aus seiner Tasse. »Es war nicht der richtige Weg für mich«, sagte er ruhig. »Ich bin davon überzeugt, dass meine Entscheidung richtig war, auch wenn andere es nicht so sehen mögen. Ich wäre nicht da, wo ich heute bin.« Er starrte mich eindringlich an. Auf einmal war seine Miene ganz ernst. »Und Sie, Dr. White? Welche Geschichten verbergen Sie unter diesem Mantel der Effizienz? Sie sind mir Ihre Geschichte schuldig.«
»Ich bin eine miserable Erzählerin.«
Jakob zog die Mundwinkel nach unten, in zwei säuberlichen Falten. Ich musste kichern. Der Champagner machte uns beide albern. Ich stellte meine Teetasse auf den Tisch, betont vorsichtig, weil ich meinen Händen nicht mehr traute.
Mein Mitarbeiter ließ sich nicht so leicht mit Ausreden abspeisen. »Es gibt keine Geschichten von einem Vater oder einer Mutter?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin Waise.«
»Das hat seine eigene Dramatik!«, rief Jakob. »Dann erzählen Sie mir die Geschichte eines elternlosen Kindes.« Er beugte sich vor, und seine Augen leuchteten.
Und ehe ich mich versah, sprudelten die Geheimnisse aus mir heraus. Das heißt, sie sprudelten nicht, sondern kamen langsam nach oben, eins nach dem anderen, wie die perlenden Bläschen im Champagner. Ich redete über meinen Vater. Dass er Arzt war, ein genialer Arzt. Ich erwähnte nicht,
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