Das Geheimnis der Herzen
Konturen seines Körpers nicht erkennen konnte. Vermutlich hatte er heute noch keinen Bissen zu sich genommen, dafür rauchte er dauernd diese verdammten Zigaretten.
»Was würden Sie zu einem kleinen Imbiss sagen?«
Er schaute unbeteiligt zu, während ich Käse und Cracker auspackte. Teller gab es nicht, stattdessen nahmen wir die Servietten aus gestärktem Leinen, die ich von meiner Großmutter geerbt hatte. Jakob breitete seine Serviette auf dem Tisch aus und begann, sie vollzupacken.
Wir wechselten kein Wort. Ich hatte ebenfalls den ganzen Tag noch nichts gegessen, nicht einmal gefrühstückt, weil ich so früh aufgebrochen war. Das Innere des Brie floss heraus, sobald Jakob mit seinem Messer die Rinde anschnitt. Wir belegten unsere Cracker damit und aßen. Nach seinem vierten oder fünften Cracker hielt Jakob inne, blickte sich im Raum um und ging zum Waschbecken. Er fragte nicht lange, sondern holte die Flasche aus dem Eimer, in dem das Eis inzwischen größtenteils geschmolzen war, und entfernte die Drahtsicherung. Gleich darauf zischte der Korken über uns hinweg und knallte oberhalb der Tür an die Wand, sodass die bunten Luftschlangen aus Krepppapier, die ich dort aufgehängt hatte, leise raschelten. Schaum quoll aus der Flasche, deshalb lief ich schnell mit einer Teetasse zu Jakob.
» Cheers! «, rief er und verschüttete dabei ein bisschen Cham pagner. »Das ist belebender als Tee.«
Ich hob meine Tasse, und wir stießen an. Jakob Hertzlich hatte noch nie in seinem Leben Champagner getrunken. Das erzählte er mir aber erst später, nachdem wir uns an Käse und Erdbeeren und Crackern sattgegessen hatten. Jakob Hertzlich hatte überhaupt noch nie einen Schluck Alkohol getrunken, wie er mir gestand. Bei Juden war es nicht Sitte, Alkohol zu sich zu nehmen, außer dem Wein, der am Sabbat serviert wurde, und dieser war so widerlich süß, dass er einem den Genuss solcher Getränke für immer austreiben konnte. »Aber das hier«, sagte er und hob theatralisch seine Teetasse, »das ist ein echtes Lebenselixier.«
Ich hatte auch erst einmal Champagner getrunken – und nur einen kleinen Schluck, als Dekan Clarke mich an Silvester zu einer Party zu sich nach Hause eingeladen hatte. Ich konnte mich nur an die Bläschen erinnern, die mir in der Nase gekribbelt hatten. Ich schwenkte meine Tasse, und ein goldener Wirbel entstand. Der Geschmack war so schwerelos, dass er nicht von dieser Welt zu sein schien. Ich goss uns eine zweite Tasse ein.
Jakob begann, mir seine Geschichte zu erzählen. Er ging so weit zurück, dass ich Anekdoten über seinen Vater Otto Hertzlich und seine Mutter Craina zu hören bekam. »Wir haben in Berlin gelebt«, berichtete er, »wo die Hertzlichs seit mehreren Generationen im Tabakhandel tätig gewesen waren. Mein Vater stellte feine Zigarren her und verkaufte sie in ganz Europa. Er war sehr erfolgreich, aber dann ist etwas passiert.«
Die Details wusste er nicht genau, aber irgendwie verlor Otto Hertzlich viel Geld, und die Gläubiger verfolgten ihn. »Ich war damals erst drei«, sagte er. »Aber ich weiß noch, dass wir mitten in der Nacht das Haus verlassen haben, um aus der Stadt zu fliehen, wie Diebe. Unterwegs hat uns jemand erkannt. Meine erste richtige Erinnerung ist, dass ein Mann in einer dunklen Berliner Straße auf unseren Wagen zugerannt kommt, sein Gesicht wutverzerrt, und uns laut beschimpft.«
Ich war gefesselt von seiner Erzählung. Viele Immigranten hatten solche Geschichten im Gepäck – wie sie ihre alte Heimat verließen, oft in Eile und unter Lebensgefahr. Das prägte die Menschen, die hier lebten, und machte sie vielleicht ein wenig zäher als andere. Auf jeden Fall wussten sie ihre neue Umgebung zu schätzen.
Von Anfang an war Otto Hertzlich von Kanada begeistert. Das Land am Südufer des St. Lawrence River stellte sich als ideal für den Tabakanbau heraus, und er begriff rasch, dass er dank des Hafens von Montreal und einer wachsenden Einwohnerzahl glänzende Aussichten für die Zukunft hatte.
»Mein Vater ist ein kluger Mann, Agnes. Er lernte schnell Englisch, auch wenn er seinen Akzent immer noch nicht verloren hat. Er ist charmant. Er verwendet Redensarten aus der alten Welt und küsst Frauen die Hand. Von der Elite in Montreal ist er nie ganz akzeptiert worden, aber bemerkt hat ihn jeder. Meine Mutter ebenfalls. Sie war hübsch, dunkel und zierlich. Meine Eltern« – er machte eine kurze Pause, um noch einen Schluck Champagner zu trinken –, »meine
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