Das Geheimnis der Herzen
zu mir gelangte, lächelte sie grimmig. »Für Sie ist soeben ein Anruf gekommen, Miss White«, sagte sie.
Howlett hatte sich gemeldet. Das Modellsitzen für das Porträt zog sich länger hin als erwartet. Die Teegesellschaft musste auf den November in Oxford verschoben werden, womit er mir hoffentlich keine Ungelegenheiten bereitete. Das alles trug Mrs Greaves mit tonloser Stimme vor. Als sie fertig war, bildeten ihre Lippen einen schmalen Strich. »Sieht so aus, als würde die Absage Ihnen Ungelegenheiten bereiten«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung zum Tisch. »Was für ein gelungenes Arrangement.«
Ich brachte kein Wort hervor.
»Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe, alles wegzuräumen?«, bot Mrs Greaves an, als sie merkte, wie betroffen ich war.
Ich schüttelte den Kopf und trat an meinen Schreibtisch, wo ich den Laborkittel aufknüpfte, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Nach einer Weile verstand sie meine Botschaft und ging. Eine halbe Stunde später saß ich immer noch da, das Kinn in die Hand gestützt. Vor mir lagen mehrere Zettel – Jakob Hertzlichs Notizen. Wenn also jemand hereinschaute, dachte er bestimmt, ich würde arbeiten. Aber ich konnte meine Gedanken nicht sammeln. Ich starrte nur auf das Papier und auf den Kontrast zu meiner grünen Schreibtischauflage. Mein Körper war wie betäubt.
Dugald Rivers streckte den Kopf zur Tür herein. »Ich bin gerade Mrs Greaves begegnet«, sagte er leise. »Schade, dass es mit dem Treffen nicht geklappt hat.« Sein Blick schweifte über den Tisch. Dann schaute er mich an. »Und Sie haben sich so viel Mühe gemacht, liebe Agnes!«
Zu meinem großen Verdruss begann mein Kinn zu zittern.
»Aber wer wird denn …«, murmelte Dugald und kam zu mir, seine Augen groß vor Mitleid.
»Entschuldigen Sie«, murmelte ich und tupfte mir mit meinem neuen Kleid die Augen. »So wichtig ist es nicht.«
Er tätschelte mir unbeholfen den Rücken. Sein Gesicht war rot und glänzte. »Doch«, sagte er mit einer Stimme, die noch höher war als sonst. Diese unfreiwillige Intimität fiel ihm schwer. »Glauben Sie mir, Agnes, ich verstehe Sie sehr gut.«
Ich nickte und deutete auf die Platte mit den Sandwiches. »Möchten Sie etwas?«
Dugald schnupperte anerkennend.
»Nehmen Sie die Sandwiches, Dugald. Bitte.«
Zu Belohnung bekam ich einen kurzen Kuss auf die Wange. »So ist’s gut, White. Sich nicht unterkriegen lassen, heißt die Parole. Sie werden es überleben.« Er ging davon, die Sand wich-Platte auf seinen Handflächen tragend.
Nachdem er fort war, begann ich, Jakobs Notizen zu sortieren. Er hatte ziemlich viel gearbeitet, während ich die exo tischen Obststände aufsuchte, und ich beschloss, da weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Ich schrieb Howletts Bemerkungen auf Karten, die Jakob dann später für den Katalog abtippen würde. Man musste dabei sehr gewissenhaft vorgehen. Die Arbeit war in keiner Weise kreativ, aber sie absorbierte mich vollkommen. Genau das Gegengift, das ich jetzt brauchte. Ich merkte kaum, wie um drei Uhr die Glocke im Flur klingelte, dann wieder um vier und um fünf. Um diese Zeit kam Jakob zurück.
»Ich hab’s gehört«, sagte er und nahm einen Stapel Papier von meinem Schreibtisch, um mir bei der Übertragung behilflich zu sein. Er klang gar nicht mehr feindselig. »Wirklich schade.«
Ich sagte nichts. Die Arbeit trug mich, und ich traute mich nicht, sie zu unterbrechen. Ich wollte mir keine weiteren Bemerkungen von Jakob anhören, das hätte ich nicht ausgehalten. Also schrieb ich und schrieb und brachte Ordnung in das Chaos vor mir. Diese Aktivität hinderte mich am Grübeln, und – was noch wichtiger war – sie erlaubte mir nicht, meinen Gefühlen nachzuspüren. Doch immer wieder stieß ich einen Seufzer aus.
Jakob schloss das Fenster und machte Licht. Da merkte ich erst, dass ich nahezu im Dunkeln gearbeitet hatte. Draußen sah ich die Spiegelung einer lodernden Gasflamme. Im Gebäude war es still, kein Schritt war im Korridor zu hören. Nach einiger Zeit ertönte eine Glocke, und jetzt zuckte ich zusammen. Ich holte meine Taschenuhr hervor und stellte zu meiner Verwunderung fest, dass es bereits acht Uhr war.
Jakob hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und seinen Stift ergriffen. Er schaute auf die Blätter, aber ich hatte das Gefühl, dass er nicht las, was da stand. Seine Haut wirkte im Schein der Deckenbeleuchtung fast gelblich, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sein Hemd war so groß, dass ich die
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