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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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wo er gearbeitet hatte, und ich nannte auch nicht seinen Namen. Ich beschrieb, wie er fortging, als ich noch sehr klein war. Ich erzählte Jakob von meiner Mutter, die bald nach seinem Abschied gestorben war, an Lungentuberkulose. Ich erzählte von meiner Schwester, die so schön war und so zerbrechlich. Jakobs Gesicht war so dicht vor meinem, dass ich seinen Atem riechen konnte – süß und zugleich sauer vom Alkohol. Ein Tropfen Champagner hing an einem Barthaar über seiner Lippe. Am liebsten hätte ich diesen Tropfen mit der Zunge abgeleckt. Der Gedanke erschreckte mich, aber nur vage. Ich begriff, dass ich betrunken war.
    Vor meinem inneren Auge erschien ein anderes Gesicht, mit Barthaaren auf der Oberlippe – das Gesicht meines Vaters, die Mundwinkel traurig verzogen. Das Gesicht war so nahe vor mir, so real, dass ich es näher zu mir zog. Ein Teil von mir wusste, dass es nicht meinem Vater gehörte. Ein Teil von mir wusste, dass dies eigentlich nicht sein durfte, aber ich zog das ungepflegte Gesicht trotzdem zu mir.
    Jakob wunderte sich nicht. Das weckte mich auf. Seine Augen blieben kühl, sie ließen mich nicht los, bis ich schließlich seinen forschenden Blick beendete, indem ich ihn auf den Mund küsste. Seine Lippen waren so süß und sauer wie sein Atem, aber auch auf eine Art tröstlich, die ich nicht erwartet hätte. Unsere Lippen blieben beieinander. Ich ließ die Augen geschlossen, und plötzlich entstand eine prickelnde Spannung, wie Strom.
    Doch dann änderte sich etwas. Meine Augen sprangen auf, als ich seine Zunge in meinem Mund spürte. Ich wich zurück, aber er folgte mir, sein Mund ruhte immer noch auf meinem. Seine Augen waren jetzt geschlossen, als schliefe er, doch eine Zunge forschte weiter, und auf einmal bekam ich Angst. Machten das alle Leute? Er war wie ein Fisch, der in mir herumschwamm. Ich stieß ihn fort.
    Dann stand ich auf und flocht verlegen die Finger ineinander. Ich konnte ihn nicht anschauen. »Es tut mir leid.«
    »Dafür gibt es keinen Grund.« Er zog mich an sich, und jetzt leistete ich keinen Widerstand mehr. Ich war noch nie so berührt worden, wurde mir in dem Augenblick bewusst, noch nie in meinem Leben. Ich hatte danach gehungert, aber bis heute hatte ich das nicht einmal geahnt. Der Champagner, den ich für Howlett gekauft hatte, rauschte durch meine Adern. Jakobs Hand wanderte unter mein Kleid und tastete nach dem komplexen System aus Knöpfen und Haken.
    Zu meiner Verwunderung genierte ich mich nicht. Ich hatte es mein ganzes Leben über bedauert, dass mein Körper so stämmig war, hatte ihn unter kaschierenden Schichten aus Stoff verborgen, aber das kümmerte mich jetzt nicht mehr. Ich half Jakob, die Haken zu öffnen. Seine Hände fassten an eine Brust, und es war, als würde er einen Schalter anknipsen. Ich dachte nicht mehr an seine Hände, nicht an das Gesicht, das sich zu mir beugte, und auch nicht daran, dass ich später vielleicht alles bedauern würde. Meine Bedenken waren wie weggewischt.

19
    November 1905, Oxford
    O bwohl er vom britischen König zu Sir William Howlett ernannt worden war, hatte er sich nicht in einen Engländer verwandelt. Sein Haus in Oxford war der Beweis dafür. Er hatte eine Zentralheizung eingebaut, ein Luxus, der selbst in den wohlhabendsten Wohngegenden von London beispiellos war. Erst recht natürlich in einer Universitätsstadt. Seit dem Nachmittag drei Tage zuvor, als ich die Landungsbrücke des Schiffs hinuntergegangen war und wieder festen Boden betreten hatte, war mir nicht mehr warm gewesen. Keine einzige Minute, drei Tage lang. Eine permanente Kältewolke schien über England zu hängen. Sir William sagte, diese Wolke würde mindestens vier Monate lang nicht verschwinden, also hätten er und Lady Kitty beschlossen, es sich wenigstens zu Hause angenehm einzurichten.
    Ich hatte in einem Gasthaus gewohnt, weil am Tag meiner Ankunft das Haus von Sir William belegt war. Lady Kittys Bruder und seine Familie waren aus Boston zu Besuch. Sir William hatte das Problem mit der gewohnten Eleganz gelöst, hatte eine Unterkunft für mich ausgesucht, für die er die Kosten übernahm. Ja, er hatte sogar ein Dienstmädchen vorbeigeschickt, das nachfragen sollte, ob das Zimmer auch angemessen sei. Ich konnte nicht klagen. Doch das Gast haus war feucht, die Bettwäsche klamm und eiskalt. Das Koh lenfeuer, das jeden Abend von einem Diener entzündet wurde, gab viel Rauch ab, aber wenig Wärme.
    Das war der englische Winter. Ich bekam einen

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