Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
an vielen Krankenbetten gesessen. Tedamöh kannte Arzneien gegen jedes nur denkbare Übel. Bei Husten und Fieber wurde sie gerufen, bei Kinderkrankheiten, Magenschmerzen und Reißen in den Gliedern. Die Insulaner murrten, wenn Tedamöh Reemke bei ihren Besuchen mitbrachte.
»Entweder ihr lasst uns beide ins Haus, oder ich geh wieder«, sagte die Heilkundige dann.
Tedamöh war eine gute Seele. Und dann gab es noch Feeke, die ab und zu ihre Hilfe brauchte. Hinderk Tjarks, Feekes Bruder, hatte sich überwunden und Reemke gebeten, ihn zu unterstützen, wenn es der Schwester schlechtging. Feeke war ein liebenswerter, sanftmütiger Mensch. In jungen Jahren hatte sie sich in einen französischen Soldaten verliebt. Als der Mann ohne Abschied nach Frankreich zurückkehrte, da hatte es ihr schier das Herz gebrochen. Wie ein Geist lebte Feeke seit diesem Tag an der Seite des Bruders. Sie versorgte ihn gut und
hielt das Haus in Ordnung. Nur sprach sie kaum und manchmal, wenn die Schatten der Vergangenheit nach ihr griffen, dann versank sie in tiefe Dunkelheit.
An solchen Tagen war es nötig, auf Feeke aufzupassen. Nie durfte man sie aus den Augen lassen, denn sie hatte schon einige Male versucht, sich im Meer zu ertränken. Die Insulaner mieden Feeke. Sie fürchteten, dass Gefahr für das eigene Seelenheil von ihr ausging.
Der Pastor unterstützte seine Schäfchen noch in diesem Glauben. »Selbstmörder sind die größten Sünder, die auf Erden wandeln und werden keine Gnade vor Gottes Augen finden«, hatte Reemke ihn einmal wettern gehört.
Hinderk war der Verzweiflung nahe gewesen, als er zu Reemke kam. Er konnte nicht Tag und Nacht an Feekes Seite sein. Und so gab es eine neue Aufgabe in ihrem Leben. War Feeke auch sonst schweigsam wie ein Grab, wenn die Dunkelheit sie umhüllte, dann sang sie mit ihrer wunderschönen Stimme Liebeslieder, die einem ans Herz griffen. Manche Stunde hatte Reemke an ihrer Seite ausgeharrt. Feeke stand ihr besonders nahe, weil auch Jeelke ihr Herz an einen Mann verloren hatte, der für Napoleon kämpfen musste. Und weil auch sie nach dem Krieg alleine zurückgeblieben war. Ach, wäre Mutter doch noch am Leben! Aber alles Grübeln half nichts.
Entschlossen begann Reemke zurückzuschwimmen. Erst jetzt merkte sie, wie weit die Wellen sie vom Strand fortgetrieben hatten und wie stark der Sog des Wassers war. Fast so stark wie damals, als sie den Vater ins Meer geworfen hatten. Dankbar waren sie damals gewesen für die gierigen Hände der See. Doch jetzt stieg Angst in ihr auf. Warum nur war sie nicht schon eher umgekehrt? Reemkes Beinmuskeln begannen zu zittern, als sie gegen die starke Strömung ankämpfte. Das Schwimmen war so anstrengend und sie so müde. Der Strand wollte und wollte nicht näher kommen. Wie weit noch? Sie
konnte die Entfernung nicht genau ausmachen. Immer wieder spülten hohe Wellen über ihren Kopf und drängten sie zurück.
Und dann war da plötzlich ein stechender Schmerz in ihrer Wade. Reemke stöhnte auf und zog das krampfende Bein an. Die Wellen schlugen über ihr zusammen, und sie schluckte Wasser. Als Reemke wieder auftauchte, rang sie nach Luft. Tränen schossen ihr in die Augen. Die Schmerzen in ihrem Bein wollten einfach nicht nachlassen.
Welle um Welle peitsche ihr ins Gesicht. Das Wasser zog sie mit sich fort, weg vom Strand. Reemke rief nach Hilfe, aber es war sinnlos. Niemand würde sie hier draußen hören. Und selbst wenn - welcher Fischer würde schon sein Boot aufs Meer hinauslenken, um sie zu retten? Verzweiflung überkam sie, und wieder drang Wasser in ihre Lunge. Alle klaren Gedanken verflüchtigten sich. Mit klammen Fingern griff die See nach ihr.
Doch plötzlich tauchte ein dunkler Schatten neben Reemke auf. Ein kräftiger Arm umfasste sie. Reemke spürte eine Hand unter ihrem Kinn, die sie nach oben zog, raus aus dem Wasser an die Luft. Keuchend rang sie nach Atem, und Erleichterung überkam sie. Doch dann überrollte der Schmerz in der Wade sie erneut. Panisch begann Reemke um sich zu schlagen. Einige ihrer Schläge trafen den Mann, der sie festhielt. Er redete auf sie ein, doch sie nahm nichts mehr wahr außer dem schrecklichen Schmerz.
»Still, Sie müssen stillhalten. Dann wird es vergehen.« Endlich drangen seine Worte zu ihr durch. »Wir müssen zurückschwimmen, sonst wird der Sog zu stark.«
Vor Reemkes Auge tanzten helle Nebelschwaden. Sie glaubte das Bewusstsein zu verlieren. Und dann, langsam, ganz langsam, ließen die Schmerzen nach
Weitere Kostenlose Bücher