Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Mutter zurück. Wie mutig sie gewesen war! Eine starke Frau, und sie hatte ihn, den Sohn, sehnsüchtig erwartet! Ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Durch das Tagebuch war ihm mehr geschenkt worden, als er jemals zu träumen gewagt hatte.
Jeels starrte in den Hitzedunst hinaus und ihm war, als könne er weit hinten in den Dünen eine schlanke Gestalt erkennen. Das lange rote Haar flatterte im Wind. Sie winkte ihm wie zum Abschied zu, als wollte sie ihm sagen, dass er nun in die Zukunft schauen und sein eigenes Leben führen müsse. Das Tagebuch war ausgelesen, und die Vergangenheit konnte endlich ruhen.
Erschöpft schloss Jeels die Augen, und als er sie wieder
öffnete, war das Trugbild verschwunden. Er hatte viele Antworten bekommen, doch einiges würde wohl für alle Zeit ein Geheimnis bleiben. Zum Beispiel die Frage, was aus dem Gold und dem Schmuck der Mutter geworden war? Jeels lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sollte es ruhig ein Geheimnis bleiben! Es verlangte ihn nicht nach Geld und Gut. Er hatte mehr als das gefunden.
Das Rätsel um seine Vergangenheit war gelüftet. Eigentlich gab es hier jetzt nichts mehr für ihn zu tun. Er könnte die Insel verlassen. Hilde hat schon mehrfach geschrieben. Sie erwartete ihn sehnsüchtig zurück.
Aufgewühlt überließ sich Jeels seinen Gedanken. Sein Verstand riet ihm zu gehen, doch er beschloss, noch eine Weile zu bleiben. Und im Grunde seines Herzens wusste er auch, warum. Er wollte dort sein, wo sie war. Obwohl er wusste, dass sich nicht erfüllen konnte, was er sich wünschte, und dass es klüger wäre, Wangerooge zu verlassen, bevor er an seiner Sehnsucht zerbrach.
Die Tür ging knarrend auf, und Krischan trat ins Freie.
»Mensch, Jeels, gemütlich Teetrinken ist ja’ne feine Sache, aber stundenlang? Und du hast ja das gute Nass nicht einmal angerührt!«
Jeels legte eine Hand auf das zugeschlagene Tagebuch. »Dies hier hat mich abgelenkt. Aber es hat sich gelohnt.« Ein Lächeln erhellte seine Züge. »Und weißt du was, mein Freund, jetzt setzen wir einen neuen Tee an und trinken ihn gemeinsam. Und dabei will ich dir erzählen, was ich in den Jahren, bevor ich auf die Insel kam, getrieben habe.«
23
E s war kalt geworden. Der Herbst hielt nun wirklich Einzug auf der Insel. Die männlichen Gäste der geheimen Hofrätin verbrachten ihre Tage mit Kegeln, Whist- und Pharaospielen, und wurden zu wahren Billardhelden im speziell dafür angelegten Salon. Sie spazierten in der manchmal noch warmen Mittagssonne mit den Damen am Strand, schossen in Begleitung des alten Harm Willems Vögel und ließen sich abends zum Tanzen bewegen.
Die Damen dagegen zogen sich gerne in ruhigere Räume zum Lesen politischer und belletristischer Schriften oder zum Diskutieren über Lyriker, Dichter und Denker zurück. Die Leihbibliothek war stets sehr gut besucht, aber auch das Studierzimmer, in dem aktuelle Zeitungen und Zeitschriften in großer Auswahl bereitstanden.
Wemkes Tage waren ausgefüllt mit Kursen, die sie den Gästen anbot. Man konnte unter ihrer Anleitung besondere Tänze einstudieren, aufwändige Stickarbeiten fertigen, in unterschiedlichen Maltechniken arbeiten oder gesanglich aktiv werden. Es gab einige ältere Damen, die sich in ihren Räumlichkeiten von Wemke regelmäßig vorlesen ließen oder einfach nur um ihre Gesellschaft baten.
Den ganzen Sommer über hatte Wemke die Arbeit als sehr anstrengend empfunden und sich nach mehr freier Zeit gesehnt. Doch jetzt war sie dankbar dafür, dass die von Konrad prophezeite ruhige Phase auf sich warten ließ. So blieb ihr
zumindest keine Zeit, um über ihre Gefühle für Jeels nachzugrübeln. Da es keine Zukunft für sie beide geben konnte, wagte Wemke es nicht, ihre Gefühle für diesen Mann als Liebe zu bezeichnen. Im Gegenteil. Sie versuchte jeden Gedanken an Jeels aus ihrem Kopf zu verbannen und Begegnungen mit ihm zu vermeiden. Der letzte warme Septembertag, den sie gemeinsam verbracht hatten, schien endlos lange her zu sein. Wie ein Traumbild aus einer fernen Zeit. Manchmal schoben sich einzelne Bilder oder Worte in Wemkes Bewusstsein, und sie verdrängte die Erinnerungen dann schnell.
Freya half ihr dabei. Sie entwickelte sich prächtig und sprach jetzt erste Wörter. Das allererste war »Wemma« für Wemke gewesen. In der wenigen Zeit, die sie gemeinsam verbringen konnten, waren die beiden am liebsten am Strand. Wenn Freya sah, dass die Schwester nach dem Mantel griff, dann rief sie schon voller Vorfreude:
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