Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
bedenklich schwankenden Turm aufstapelte. Als das Kind Wemke sah, rappelte es sich hoch, rief »Arm kommen« und rannte freudestrahlend auf die Schwester zu.
Wemke fing das Mädchen auf und sah die Hofrätin verwirrt an. »Aber was ist denn nur geschehen? Warum ist Freya nicht bei den anderen Kindern?«
Wie auf Signal fing Frau Bartling an zu jammern und die Hände zu ringen. »Ach herrje, was für ein Elend! Sie müssen sofort dieses Haus verlassen, meine Liebe. Am besten wäre es, wenn Sie noch heute zum Festland zurückkehren.«
»Wie bitte?« Wemke glaubte sich verhört zu haben.
»Ja, ja - Sie müssen alle fort. Vor allen Dingen Ihr Gemahl!« Die Hofrätin griff sich an die Stirn, als habe sie unerträgliche Kopfschmerzen.
Wemke starrte sie entgeistert an. »Was ist mit Konrad?«
»Er …«, die Hofrätin stockte und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Er ist furchtbar krank«, sagte sie schließlich.
Gerlind wischte sich mit dem Ärmel über die nassen Augen, fasste sich dann aber und hob, da die Hofrätin dazu scheinbar nicht in der Lage war, zu einer weiterreichenden Erklärung an. Sie nahm wie immer kein Blatt vor den Mund und tischte Wemke die Wahrheit schonungslos auf.
»Der Doktor wird wohl sterben müssen. Hubert hat ihm heute Morgen die geputzten Stiefel gebracht und gesehen, dass er die Pocken hat. Er selbst hat einen Bruder durch die Krankheit verloren und weiß Bescheid. Hubert sagt, er hat es dem Doktor auf den Kopf zugesagt, und dieser soll nur genickt haben. Seit gestern trägt er die Zeichen und ist ja heute auch nicht zum Essen rübergegangen.«
»Vielleicht haben Sie und das Kind sich auch schon angesteckt!« Als sei ihr die Gefahr gerade wieder bewusstgeworden, stand die Hofrätin ruckartig auf und wich einen Schritt zurück. »Herr im Himmel, vielleicht werden wir alle daran sterben.« Sie wurde erst rot, dann blass im Gesicht. »Gerlind, ich brauche mein Riechsalz, sofort!«
Während Gerlind brachte, was die Hofrätin erbat, starrte
Wemke die beiden Frauen fassungslos an. »Konrad selbst hat bestätigt, dass er die Pocken hat?«, vergewisserte sie sich mit leiser Stimme. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
Die Hofrätin brachte kein Wort heraus, aber Gerlind nickte heftig. »Hubert hat gesagt, wie’s aussieht, und er hat es nicht abgestritten. Wie soll er auch? Wo doch die Zeichen schon zu sehen sind!«
Wemke schloss für einen Moment die Augen. Konnte das wahr sein? Die Pocken! Der schwarze Tod! Aber wenn Konrad es selbst diagnostiziert hatte, dann musste es stimmen.
Eine lähmende Angst überfiel sie. Fest presste Wemke das kleine Mädchen an sich. Gestern noch hatte Freya bei ihm auf dem Schoß gesessen. Wemke biss sich auf die Lippen. Es durfte ihr einfach nichts passieren!
Vor ihren Augen erschienen Bilder, die sie vor Furcht erstarren ließen. Sie selbst hatte den Ausbruch der Krankheit noch nie miterlebt, aber ihr Vater hatte oft von den mit Pusteln übersäten Leichen erzählt, die aus den Häusern auf die Straßen geschleift und in Massengräbern außerhalb der Ortschaften verscharrt wurden. In seiner Jugendzeit waren viele Menschen an der Krankheit gestorben. So viele, dass man sie nicht mehr standesgemäß und mit Würde beerdigen konnte. Teilweise seien der Seuche ganze Familien zum Opfer gefallen.
Wemke riss sich zusammen und straffte die Schultern. »Konrad ist ein sehr vorsichtiger Mensch. Vielleicht vermutet er nur, dass es sich um die Pocken handeln könnte und will niemanden gefährden«, sagte sie ruhig und mit fester Stimme. »Deshalb hat er sich auch zurückgezogen. Es mag sein, dass er Unrecht hat. Vielleicht ist es eine ganz andere Krankheit, etwas Harmloses. Ich gehe jetzt zu ihm und beratschlage, was geschehen soll. Wenn er wirklich krank ist, dann braucht Konrad Hilfe.«
»Er kann auf keinen Fall hierbleiben«, rief die Frau Geheime
hysterisch. Sie schob in wilder Hektik die Ärmel ihres Kleides zurück und musterte die nackte Haut. »Gerlind, siehst du schon was? Ich war in seiner Nähe. Vorgestern noch habe ich mit ihm getanzt und gestern, beim Mittag, reichte er mir das Salz. Vielleicht habe ich mich schon angesteckt. Ach wie schrecklich das alles ist. Und die armen Gäste!« Sie schlug eine Hand vor den Mund. »Wir müssen alle Stillschweigen bewahren. Nichts von alledem darf ans Licht kommen! Es ist nur gut, dass es nicht in der Hochsaison passiert ist. Sie müssen gehen, alle miteinander. Ich bestehe darauf!«, schrie sie und
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