Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
»Dada Wasser«. Es konnte ihr nicht schnell genug gehen, ans Meer zu kommen. Sie rief nach Schuhen und Jacke, und fand kaum die Geduld, sich anziehen zu lassen. Dann rannte sie fast den ganzen Weg auf ihren kurzen Beinchen und klatschte vor Freude in die Hände, wenn sie die geliebten ›Mö‹, die Möwen, erblickte und das Wasser sah. Sie haschte nach den Vögeln und lockte sie mit »komm« - eine Aufforderung, der diese natürlich nicht nachkamen.
In den Sommermonaten war es ihr das Liebste gewesen, in die Wellen zu waten und sich einfach mitten hineinzusetzen. Konrad hatte versucht, ihr dieses Vergnügen auszutreiben, doch ohne Erfolg. Während die Kinder der Insulaner Angst vor dem nassen Element zeigten, konnte Freya nicht genug davon bekommen. Ihre Augen blitzten und sie forderte mit Küssen und Gurren das Meer auf, noch näher an sie heranzukommen. Um ins Wasser zu gehen, war es um diese Jahreszeit jedoch schon zu kühl, und nach einigen nassen Erlebnissen war es Wemke auch gelungen, dies dem Kind klarzumachen.
Auch die Gäste suchten jetzt im Herbst ausschließlich das in einiger Entfernung vom Strand liegende Badehaus auf, um in erwärmtes Seewasser einzutauchen. Schon 1820 war die alte Kaserne aus der Franzosenzeit zum Warmbadehaus umgebaut worden. In früherer Zeit war das Meerwasser mittels besonders dazu eingerichteter Wagen herbeigeschafft worden. Vor einigen Jahren hatte man dann eine Wasserleitung gelegt. Das Seewasser wurde durch metallene Röhren mit einem am Strand stehenden Druckwerk in ein speziell dafür angelegtes Bassin getrieben und floss von dort in einen Dampfkessel, wo es erwärmt und anschließend in die Badewannen geleitet wurde.
Die hölzernen und mit Ölfarbe angestrichenen Wannen standen in Badekabinen und waren zum bequemen Ein- bzw. Ausstieg etwas in den Boden versenkt. Durch zwei Röhren mit Messinghähnen konnte warmes, aber auch kaltes Seewasser eingelassen werden. Im Badewasser schwammen Thermometer aus Kork, die es den Gästen ermöglichten, die von Konrad vorgeschriebene Temperatur zu halten. Auch die Dauer des Aufenthalts im Wasser legte er exakt fest.
Wemke hatte den Verdacht, dass einige Gäste ganz bewusst die kältere Jahreszeit zum Inselaufenthalt wählten, um den Beschwerlichkeiten des Badens im Meer zu entgehen. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch und war froh, heute Morgen das kornblumenblaue Kleid aus leichter Wolle angezogen zu haben. Seit Tagen regnete es ununterbrochen. Wemke saß mit einigen anderen Damen beisammen, von denen jede eine Stickarbeit in Händen hielt.
»In den letzten Tagen nur Regen und wieder Regen«, schimpfte gerade Frau Pastor Lübben. »Wenn nicht die tägliche Stunde im Badehaus wäre, könnte man hier einfach nur melancholisch werden.«
»Na, wir haben es ja zumindest schön warm und sind in bester Gesellschaft«, besänftigte sie eine Freundin.
Wemke fiel es heute sehr schwer, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Sie sehnte sich nach Freya und machte sich zudem Sorgen um Konrad. Er fühlte sich schon seit Tagen nicht wohl. Sein Gesicht war am Morgen kalkweiß gewesen. Er hatte über Appetitlosigkeit geklagt und das Frühstück ausfallen lassen. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Als die Glocke endlich das Mittagessen ankündigte, atmete Wemke erleichtert auf. Sie sprang ungeduldig zur Tür und hastete zum Speisesaal. Schon von weitem sah sie die Hofrätin im Gang stehen und wild gestikulieren. Es schien, als wolle die Frau Geheime ihr bedeuten, nicht näher zu kommen. Wemke blieb verblüfft stehen.
»Sie können da nicht hinein!«, rief die Hofrätin ihr zu.
»Wie bitte?« Befremdet runzelte Wemke die Stirn. Sie hatte jetzt keine Zeit für neue Anweisungen und kindische Vorhaltungen der Hofrätin. Sie wollte zu Konrad.
»Kommen sie, meine Liebe«, sagte die Hofrätin, hielt aber gleichzeitig abwehrend die Hände vor sich. »Folgen Sie mir möglichst unauffällig und in einigem Abstand zu Ihren Räumlichkeiten.«
Mit den Räumlichkeiten meinte sie Konrads und ihre gemeinsame Wohnung. Die Frau Geheime weigerte sich standhaft einzusehen, dass Wemke dort ihr eigenes Zimmer besaß und auch nutzte. In ihren Augen hatte sich das Ehearrangement als ein voller Erfolg erwiesen.
In dem Zimmer, wo Konrad seine Patienten empfing, fand Wemke eine völlig aufgelöste Gerlind vor. Diese schien auf Freya aufgepasst zu haben, die zu Wemkes Erstaunen nicht im Konversationshaus war, sondern auf dem Boden saß und Holzklötze zu einem
Weitere Kostenlose Bücher