Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
auf. Ihre Hände packten das Kind. Sie presste Freya fest an sich. Vorsichtig ließ Wemke sich in die Hocke sinken und streckte Konrad ihre freie Hand entgegen.
Doch ihn schienen alle Kräfte verlassen zu haben. Das Wasser riss an ihm, und er konnte sich offenbar kaum noch aufrecht halten.
»Wemke, du musst fliehen! Ich schaffe es nicht mehr.« Der Wind verzerrte seine eindringlichen Worte.
»Ich gehe nicht ohne dich! Konrad, komm, versuche es nochmal!« Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihre zitternde Hand hielt die seine, während das Wasser ihn umtoste. Schon merkte sie, wie seine Finger sich lösten.
»Rette dich, Wemke. Du sollst noch lange leben und glücklich sein. Geh mit Gottes Segen und meinem. Geh, und denke im Guten an mich.«
Vor lauter Tränen konnte Wemke fast nichts mehr sehen. Plötzlich merkte sie, dass jemand sie zur Seite drängte.
»Wemke, mach Platz!« Jeels’ Stimme ließ sie vor Erleichterung fast ohnmächtig werden.
Kräftige Arme griffen nach Konrad und zogen den Arzt mit einem mächtigen Ruck aus der Schneise. Das Wasser riss ihm die Schuhe und Socken von den Füßen.
»Dr. Hoffmann, ich halte Sie!«, brüllte Krischan. Er stützte den entkräfteten Konrad, während dieser keuchend wieder zu Atem kam.
Dodo, der Robbenjäger, griff nach Freya, die ihr Gesicht an Wemkes Schulter barg. »Kannst ruhig zum alten Dodo kommen und dich an ihm festklammern, du kleine Wassermaus«, brüllte er ihr ins Ohr. »Hab schon so manchen Seehund aus dem Nass gezogen und soll dich wohl auch noch heil ins Trockene bringen.«
Jeels hatte nur noch Augen für Wemke. Er drängte sich an den anderen vorbei und zog sie in seine Arme. »Gott sei Dank, ihr lebt! Ich glaubte schon, dich verloren zu haben.«
Sein Mund war dicht an ihrem Ohr, und Wemke hörte in seiner Stimme die Qualen, die er ausgestanden hatte. Sie spürte seine Nähe, fühlte sein Herz kraftvoll und stetig gegen ihres schlagen. Es war ein Augenblick schierer Glückseligkeit. Wemke lächelte unter Tränen. Mit beiden Armen umklammerte sie ihn, presste ihren Kopf an seinen Hals. Und langsam, ganz langsam beruhigte sich auch ihr eigener Herzschlag. Jeels war bei ihr. Jetzt würde alles gut.
»Ich konnte nicht einfach gehen und Konrad zurücklassen«, sagte sie, und ihre Stimme brach.
Er nickte nur. »Ich weiß. Gerlind und die anderen Dienstboten sprachen davon. Sie sind uns begegnet. Die drei haben es über die Wasserschneise geschafft und sind sicherlich schon wohlbehalten im Turm angekommen. Ist mit dir alles in Ordnung?«
Wemke nickte nur. Sprechen konnte sie nicht. Sie waren gerettet!
35
W emke hatte jegliches Gefühl für Raum, Zeit und sich selbst verloren. An Jeels’ Seite saß sie im Turm und wachte über Konrad, den Jeels auf ein Lager aus Stroh gebettet hatte. Krischan und Dodo kümmerten sich derweil liebevoll um Freya, und auch Benno wich nicht von ihrer Seite. Nur ab und zu kam er und beschnupperte Jeels, als wollte er sich davon überzeugen, dass dieser auch tatsächlich da war. Es schien, als hätte das Erlebnis den Hund noch mehr mit den Menschen, zu denen er gehörte, verbunden.
Konrad hielt die Augen geschlossen. Sein Atem ging schwach. Hohes Fieber hatte Besitz von ihm ergriffen und schüttelte seinen ganzen Körper. Doch außer trockener Kleidung und kühlenden Tüchern gab es nichts, was sie dagegen tun konnten. Sein Zustand, der schon zuvor besorgniserregend gewesen war, verschlechterte sich zusehends.
Während Konrad seinen eigenen Kampf ausfocht, schwemmte Woge auf Woge über die Insel hinweg. Irgendwann rissen das Donnern der brechenden Wellen und das Krachen von berstendem Holz Wemke aus ihrer Versunkenheit. Onno starrte mit Augen groß wie Wagenräder aus dem Fenster.
»Nun muss es sich zeigen«, sagte Tedamöh mit zusammengekniffenen Lippen.
»Der Herr steh uns bei!«, betete der Pastor. Er schloss eines der weinenden Kinder in seine Arme und barg dessen Kopf an seiner Brust. Sacht wiegte er den kleinen Jungen.
Wemke setzte sich auf und schaute hinaus. Im ersten Grau des Morgens sah sie eine Wasserwand, so hoch wie ein riesiger Wal, auf den Turm zurasen. Stöhnen erklang um sie her, jemand schrie auf, andere bargen die Gesichter in den Händen. Die Angst der Menschen erreichte einen neuen Höhepunkt. Würde die Flutwelle den Turm mit sich reißen? Es konnte kaum anders kommen! Manche füllten die Lungen noch einmal mit Luft und hofften, dass das Ende schnell und gnädig sein würde.
Für Minuten
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