Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Niemand hatte es ihr ausreden können. Wemke biss die Zähne zusammen. Was war das alles doch für ein Schauspiel - mit ihr, und natürlich ihrem Bräutigam, in der Hauptrolle. Doch jetzt, in diesem Augenblick, wollte sie nicht daran denken. Diese kurze Zeit wollte sie nutzen, um Kraft zu schöpfen für das, was kommen mochte.
Wemke schloss die Augen, ignorierte die summende Gerlind und spazierte in Gedanken auf versteckten Pfaden zum Strand. Sie sah die Wellen vor sich, hörte die Schreie der Möwen und ergötzte sich am Farbenspiel der Sonne, die vor ihrem geistigen Auge aufging. Allmählich ergriff eine tiefe Ruhe Besitz von ihr. So war es immer, wenn sie all das, was Wangerooge ausmachte, in sich aufnahm und Teil davon wurde. Sie war hier auf dieser Insel, die sie jetzt schon liebte. Und wenn sie heute den Badarzt heiratete, dann würde dieses Eiland für sie zu einem Zuhause werden. Das war es, was sie ersehnte. Ein Zuhause für sich und Freya. Konnte es etwas Besseres geben im Leben? Was die anderen dachten, durfte sie nicht kümmern.
Für einen Moment nahm, wie schon so oft in den letzten Tagen, das Bild eines Menschen in ihrem Kopf Gestalt an. Sie sah den rothaarigen Fremden vor sich, der bei ihrer Ankunft für sie Partei ergriffen hatte.
Immer wieder schlich sich dieser Mann in ihre Gedanken! Sie hatte allen Grund, ihm dankbar zu sein, doch innerlich hegte Wemke einen unbestimmten Groll gegen ihn. Oder war es ein Groll gegen sich selbst? Bedauerte sie es etwa, nicht seine Hand ergriffen zu haben, nicht mit ihm geflohen zu sein? Ihr ging es doch gut, so wie es war. Was hatte dieser Fremde an sich, dass sie ihm, wenn es nach ihrem Herzen ginge, einfach gefolgt wäre? Sie kannte ihn doch gar nicht!
Wemke schüttelte den Kopf über sich selbst und vertrieb die Gedanken. Als wollte sie dem Anblick des Rothaarigen etwas entgegensetzen, formten ihre Lippen lautlos einen Namen: Konrad. Es fiel ihr schwer, den fünfundzwanzig Jahre älteren Badearzt so zu nennen. Doch sie würde sich schon noch daran gewöhnen. Die geheime Hofrätin hatte veranlasst, dass er in den vergangenen Tagen von seinen Pflichten weitestgehend entbunden war, und so hatten sie gemeinsam die Insel erkunden können. Welche Gefühle Wemke auch immer
für oder gegen die Frau Geheime hegte, dieses Entgegenkommen war eine gute Tat gewesen. Wemke hatte den Mann an ihrer Seite schätzen gelernt, und da er ihr nun nicht länger fremd war, fürchtete sie sich auch nicht mehr vor ihm. Und Freya? Wemke lächelte. Innerhalb dieser wenigen Tage hatte das Kind eine große Zuneigung zu dem Arzt entwickelt. Sie begrüßte ihn jedes Mal mit glucksenden Lauten der Freude und streckte, schelmisch gurgelnd, die Arme nach ihm aus. Wemke vermutete fast, dass Konrad es der Frau Geheimen nur wegen Freya verzieh, ihm hinter seinem Rücken eine Braut ausgesucht zu haben.
Vor zwei Tagen hatte Konrad ihr den Kirchenraum gezeigt, in dem die Trauung stattfinden würde. Er befand sich im alten Turm, der inmitten des Dorfes stand. Den Kopf im Nacken hatte Wemke bewundernd hochgeschaut. Der Turm war fünfstöckig, hatte zwei gleichförmige Spitzen und eine weitere, die zwischen den beiden anderen hoch emporwuchs.
Über dem Erdgeschoss, das wahlweise als Eiskeller und Aufbewahrungsort für Strandgut genutzt wurde, befand sich im ersten Stockwerk die Kirche. Sie war durch eine in der westlichen Mauer ausgesparte Treppe zugänglich. Genau vierundzwanzig steinerne Stufen mussten sie hinaufsteigen. Wemke war Konrad mit gemischten Gefühlen in den Raum gefolgt, in dem die Trauung stattfinden würde. Entgegen ihrer Befürchtung war alles sehr hell gewesen. An jeder Seite des Kirchenraums befand sich eine Fensteröffnung. Das meiste Licht fiel von Süden direkt auf den Altar und die sich dahinter befindende Kanzel. Die anderen Fenster waren teilweise von davor angebrachten Logen verdeckt. Gegenüber dem Altar befand sich eine kleine Orgel. Außer den Sitzplätzen auf den Bänken und Logen gab es noch zwei Emporen, auf denen im Stehen dem Gottesdienst beigewohnt werden konnte.
Als sie die Treppe wieder hinabstiegen, erklärte Konrad ihr,
wofür die drei über dem Kirchenraum liegenden Geschosse genutzt wurden. Eines war als Wohnung eingerichtet, die früher dem Lampenwärter gedient hatte. Heute wurden manchmal Arbeiter vom Festland für einige Zeit darin untergebracht. Während im Erdgeschoss das besonders sperrige Strandgut lagerte, verwahrten die Insulaner im dritten und
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