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Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman

Titel: Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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die Mutter tonlos. »Mein Kind, ich mag mich nicht daran erinnern. Es gibt Dunkelheit und Licht im Leben eines jeden Menschen. Und wenn man sich im Dunkeln wähnt, dann bringt die Erinnerung an das Licht einen zum Weinen. Und mir ist es schwer genug ums Herz.«
    »Ich will dich nicht traurig machen.« Reemke umarmte die Mutter kurz und fest.
    Diese seufzte. Sie schob für einen Moment das Butterfass zur Seite und setzte sich an den Tisch. »Vielleicht muss ich mich endlich überwinden und dir alles erzählen. Du bist alt genug, um es zu erfahren. Weißt du, Liebes, ich habe nicht immer hier gelebt. Aufgewachsen bin ich an einem anderen Ort, an der Küste. Mein Vater war ein reicher Mann. Er ließ Schiffe bauen und verdiente viel Geld damit. Meine Mutter starb, als ich vierzehn Jahre alt war. Von da an waren Vater und ich eine eingeschworene Gemeinschaft.« Sie schloss die Augen und verharrte reglos. »Er verwöhnte mich mit schönen Kleidern und wertvollem Schmuck. Er las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Doch dann …« Sie biss sich auf die Lippen. Nach einer Weile sprach sie weiter. »… dann heiratete ich deinen Vater und kam hierher auf diese Insel.«
    Reemke hatte mit zur Seite geneigtem Kopf gelauscht. »Warum
hast du das getan? Ich meine, ihn geheiratet? Wo du es doch so gut hattest bei deinem Vater?«
    »Weil ich mich verliebt hatte.«
    Eine steile Falte grub sich in Reemkes Stirn. »Das glaube ich dir nicht. Nicht in ihn!«
    Die Mutter strich ihr über den Kopf. »Nein, nicht in ihn. In einen jungen Mann mit lockigem Haar und sanften Augen.« Sie blickte träumerisch in die Ferne.
    »Sein Bild ist in dem Medaillon«, sagte Reemke leise.
    Ihre Mutter riss den Kopf herum. »Woher weißt du …«
    »Ich habe das Versteck entdeckt. Schon vor langer Zeit.« Reemke sah sie entschuldigend an. »Aber sei ganz beruhigt. Niemand außer mir weiß davon. Wem hätte ich es auch erzählen sollen?« Ihre Stimme klang bitter.
    »Ach Kind, ich wusste nicht, wo ich den Schmuck verstecken sollte. All das andere Geschmeide hat mir dein Vater sofort nach unserer Heirat abgenommen und verkauft. Doch das Medaillon wollte ich um keinen Preis der Welt hergeben. Und so verbarg ich den Anhänger unter dem losen Brett. Die Truhe und ihr Inhalt sind das Einzige, was von meinem früheren Leben übrig geblieben ist.«
    »Wer ist der Mann auf dem Bild?«
    »Mein Geliebter. Sein Name war Friedrich. Wir wollten heiraten. Doch dann kam der Krieg. Er starb, und ich war damals schwanger. Dein Vater nahm mich auf.«
    »Weil dein Vater dich nicht mehr wollte«, ergänzte Reemke.
    »So ist es. Ich bekam einen kleinen Sohn. Du weißt ja, dass dein Bruder gestorben ist, bevor du auf die Welt kamst.« Ihre Augen umwölkten sich vor Trauer. »Manchmal, wenn es mir ganz schlechtging, dann habe ich das Bild in dem Medaillon betrachtet und mir vorgestellt, was hätte sein können. Fast vermeinte ich dann, Friedrichs Lippen wieder auf meinen zu spüren und die Liebe zu fühlen, die uns umgab. Und wenn ich
glaubte zu zerbrechen vor lauter Schmerz, überkam mich eine große Ruhe und Ergebenheit. Die Liebe zu ihm half mir, dies alles zu ertragen. Und natürlich du, mein Kind!« Sie lächelte der Tochter traurig zu. »Aber Gnade uns Gott, wenn dein Vater das Medaillon findet. Dann fällt er nur wieder in Raserei.« Als sei alles gesagt, wandte sie sich wieder der Butter zu. »Und nun möchte ich niemals wieder darüber sprechen. Es tut zu weh, sich vor Augen zu halten, was man verloren hat.«
    Stumme Tränen rannen über die Wangen der Mutter, und Reemke griff nach ihrer Hand. »Ich habe dich lieb«, flüsterte sie. Die Mutter nickte nur und drückte das Mädchen fest an sich.
    »Warum wird hier nicht gearbeitet?«
    Keine der beiden hatte gemerkt, dass der Vater nach Hause gekommen war. Stets registrierte sein scharfer Blick in Sekundenschnelle alles, was um ihn herum vorging. Er hatte diese Angewohnheit, die auch Raubtieren zu eigen ist: immer auf der Hut und allzeit zum Angriff bereit zu sein.
    »Ich bin bei der Butter, und das Kind kümmert sich um den Brotteig«, sagte die Mutter ruhig.
    Ohne ein Wort setzte Reemkes Vater sich an den Tisch. Der Stuhl knarrte unter seinem Gewicht. Trotz der geringen Größe war Tede van Voss ein sehr schwerer Mann. Er hatte enorme körperliche Kräfte und liebte es, sich mit anderen zu messen. Zu kämpfen war das Einzige, was dieser Mann kannte. Sein ganzes bisheriges Leben war ein Kampf gewesen. Allein gegen die Welt.

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