Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
vorsichtig von Reemke. Sie trat zögernd aus dem Stall und ging zum Haus zurück. Durch die geöffnete Tür sah Reemke, wie sich der Rauch vom Ofen langsam aus dem Schornstein schlängelte. Alles schien wie immer, und doch war nichts wie zuvor. Zitternd setzte sie sich in Bewegung.
Der Vater lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Das Blut hatte die Steine und seine Kleidung dunkel gefärbt.
Die Mutter klammerte sich krampfhaft an der Tischplatte fest. »Er ist tot«, flüsterte sie. »Mein Gott, ich habe ihn umgebracht!«
Sie standen beide wie erstarrt da und starrten auf den Leichnam. In der Stille wuchs jeder Laut ins Unermessliche. Reemke spürte ihr Herz pochen. Der Wind strich laut raschelnd durch die Sträucher, und die Schreie der Möwen drangen schrill an ihr Ohr.
Plötzlich kam ein irres Lachen über die Lippen der Mutter. »Ich habe ihn wahrhaftig getötet! Dabei bin ich als Kind immer davongelaufen, wenn ein Tier geschlachtet werden sollte. Ich konnte die Schreie nicht ertragen, den Todeskampf.« Ihre Augen wanderten zu der reglosen Gestalt am Boden. »Aber ich konnte nicht zulassen, dass er dich totschlägt.« Sie schlang wieder die Arme um ihre Tochter. »Und er hätte es getan!«
Reemke blickte in das Gesicht der Mutter. Es glühte in grimmigem Stolz. Die Mutter bedauerte ihre Tat nicht. Sie hatte Rache genommen für viele entsetzliche Jahre. Schweigend sahen sie einander an, und Reemke begriff zum ersten Mal, dass sich hinter der sanften Stimme und dem lieblichen Aussehen der Mutter eine Stärke verbarg, von der niemand etwas ahnte.
»Ich hätte ebenso gehandelt«, sagte sie mit fester Stimme. Als Wut und Benommenheit verschwanden, kehrte der Schmerz zurück. Ihre Knie begannen zu zittern, und sie setzte sich stöhnend auf einen Stuhl. Jetzt erst nahm sie ihre Verletzungen bewusst wahr. Um sie zu versorgen, blieb jedoch keine Zeit.
»Reemke«, sagte die Mutter leise, aber bestimmt. »Wir müssen ihn fortschaffen, so schnell wie möglich. Niemand darf ihn hier finden. Wenn sie uns fragen, dann behaupten wir, er sei seit gestern verschwunden.«
Reemkes Gedanken überschlugen sich. »Am besten werfen wir ihn ins Meer. Das Wasser wird alle Spuren verwischen, und mit Glück ist er beim Anschwemmen schon so aufgedunsen, dass nicht einmal mehr die Todesursache zu erkennen ist.«
»Aber wie sollen wir ihn dorthinschaffen? Du bist verletzt.«
»Es geht schon. Wir wuchten ihn auf den Karren und ziehen ihn zum Wasser«, sagte Reemke entschlossen.
Ihre Mutter nickte. »Und dann schwimmen wir weit hinaus und übergeben ihn der See. Später werden wir hier alle Spuren beseitigen.« Sie wies auf den blutgetränkten Steinboden.
Reemkes Bewunderung wuchs. Nie hätte sie gedacht, dass die Mutter so sein könnte.
Während diese den Handwagen holen ging, beschloss Reemke, dem Vater die Kleidung auszuziehen. Die blutdurchtränkten Sachen würden sie verbrennen. Voller Ekel knöpfte sie die Jacke auf. Als sie dem Toten die Hosen auszog, schlug ihr etwas gegen das Knie. Vorsichtig löste sie einen mit Schnüren verschlossenen Beutel vom Gürtel der Hose. Mit bebenden Händen öffnete sie ihn. Gold und Schmuck kamen zum Vorschein. Das Miniaturbild eines kleinen Mädchens in einem mit Perlen besetzten Goldanhänger, ein kostbarer Diamantring, ein goldenes Amulett, aber vor allem jede Menge Goldmünzen.
Als die Mutter zurückkehrte, hielt Reemke ihr den Fund mit ausgestreckten Händen entgegen.
»Du lieber Gott, ich glaube, er hat ein Vermögen gehortet«, flüsterte sie.
Die Züge der Mutter wurden für den Bruchteil einer Sekunde weich. »Das Mädchen auf dem Bildnis bin ich. Das ist mein Schmuck, und das Gold meines Vaters. Er hat nichts davon verkauft.« Dann verhärtete ihre Miene sich wieder. »Wirf jetzt den Beutel zur Seite«, befahl sie. »Wir haben keine Zeit dafür. Schnell, mein Kind. Fort mit ihm.«
Reemke beugte sich nieder, fasste den toten Mann bei den Schultern und zog. Er war schwer, trotz der geringen Größe, und sie fühlte sich plötzlich sehr schwach. Wenn sie es nun nicht schafften, ihn auf den Karren zu wuchten? Doch die
Mutter schien mehr Kraft zu haben, als Reemke ihr jemals zugetraut hatte. Ächzend wuchteten sie den Toten auf den Räderwagen.
Dann verbargen sie ihn unter einer Decke und warteten auf die Dunkelheit.
Das Meer schien sie willkommen zu heißen. Das Rauschen der Wellen klang wohlwollend in Reemkes Ohren. »Wir werden euch von ihm befreien«, raunte es um
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