Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman

Titel: Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
sie herum.
    Sie rollten den Wagen bis weit ins Wasser, dann warf Reemke die Decke zur Seite, und beide Frauen griffen nach einem Bein. Reemkes Verletzungen, denen sie kaum noch Beachtung geschenkt hatte, schmerzten im salzigen Wasser so sehr, dass sie mit den Zähnen knirschte. Mit aller Anstrengung zog sie. Auch die Mutter ließ sich mit vollem Gewicht nach vorne fallen, bis der tote Körper endlich ins Wasser klatschte.
    »Der Wagen«, wisperte die Mutter. »Wir dürfen nicht vergessen, auch ihn zu säubern.«
    Ohne sich noch einmal umzudrehen, wateten die Frauen weiter und immer weiter ins Meer. Das ablaufende Wasser zog an ihnen. Ja, sie hatten eine Gabe für die fordernden Hände! Als Reemke den Vater losließ, überkam sie eine große Erleichterung. Es war vorbei. Jetzt würde ihr Leben neu beginnen. Sie waren frei!
     
    Über den Toten sprachen wir nie mehr. Schweigend verwischten wir alle Spuren des Kampfes und machten nach zwei Tagen Meldung, dass Vater verschwunden sei. Da er im Laufe der Jahre schon öfter ohne ein Wort gegangen und erst wiedergekommen war, wenn es ihm gefiel, wurde die Nachricht achselzuckend hingenommen.
    Mutter und ich schmiedeten Pläne für die Zukunft, doch wir hatten die Rechnung ohne das Schicksal gemacht. Seit der Nacht,
in der wir ins Meer gehen mussten, waren erst wenige Tage vergangen, da griff ein Fieber nach ihr. Innerhalb kürzester Zeit war Mutter so geschwächt, dass es mir nicht einmal gelang, ihr Tee oder Suppe einzuflößen.
    Tedamöh kam, um zu helfen. Doch als ich sie hinausbegleitete, schüttelte sie nur den Kopf. Meine Mutter würde nicht wieder gesund werden.
    »Es ist nicht nur die Krankheit. Ihr Lebenswille ist erschöpft«, sagte sie mir. »Die anderen glauben, sie sterbe aus lauter Verzweiflung über das Verschwinden deines Vaters. Diese Narren. Sag selbst, niemand ist glücklicher als deine Mutter, dass er fort ist, oder?«
    Ich brachte nur ein Nicken zustande. Eine tiefe Traurigkeit hatte mich erfasst. Doch abends, als ich neben dem Alkoven saß und nach Mutters Händen griff, beruhigte sie mich.
    »Nicht, dass du glaubst, ich würde sterben, weil ich diesen Mord begangen habe, mein Kind. Kein Geist steht auf und sucht mich in den Nächten heim. Mich überfällt kein Grauen, ich verspüre keine Gewissensbisse bei dem Gedanken an meine Tat. Gut, dass die Insulaner mich nur als ein hilfloses, weiches Weib kennen.« An dieser Stelle lächelte sie grimmig. »Hoffentlich bleibt er noch lange im Meer. Ich habe alle Feigheit meines Lebens abgeschüttelt und die Knute dieses Mannes dazu. Nun muss ich mich nicht mehr sorgen, dass er dir etwas antun könnte. Du bist sicher. Ich habe getan, was mir auf der Erde zugedacht war, und nun will ich endlich heimkehren zu meinem Liebsten. Kind, du musst nicht auf dieser verdammten Insel bleiben. Nimm das Gold und den Schmuck, und geh fort von hier. Suche dir einen guten und freundlichen Mann und werde irgendwo glücklich. Versprich es mir!«
    Ich lächelte und streichelte ihre Hand, doch das von ihr geforderte Versprechen konnte ich nicht geben. Niemals werde ich von hier fortgehen. Die Insel ist mein Zuhause, sie gehört zu mir und
ich zu ihr. Ich kann nicht leben ohne das Rauschen des Meeres, das Schreien der Möwen und den immerfort wehenden Wind. Sand will ich unter den Füßen spüren und Wasser vor Augen haben.
    Aber all das verschwieg ich Mutter. Keine fünf Tage später war sie tot, und nun weiß ich, was Einsamkeit wirklich bedeutet…
     
    »Oh Gott«, entfuhr es Jeels mit rauer Stimme. Mit zitternden Fingern schob er das Tagebuch ein Stück von sich fort, so als müsse er Abstand gewinnen zu dem, was er gerade erfahren hatte. Seine Augen brannten. Er wusste nicht, wie spät es war. Wie lange hatte er hier gesessen und gelesen? Zeit und Raum schienen jede Bedeutung verloren zu haben.
    Jeels hob den Kopf und stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. Er schien in immer gleicher Haltung gesessen zu haben. Der Rücken tat ihm weh, sein ganzer Körper war verspannt.
    Jenseits des Fensters sah er nur dunkle Schwärze. Es war kühl im Raum, und Jeels fühlte sich matt und schwach. Er barg den Kopf in den Händen. Er konnte nicht mehr weiterlesen. Mehr vermochte er nicht auszuhalten.
    Unendliches Mitleid für seine Mutter schnürte ihm die Kehle zu. Was für ein Schicksal! Wie hatte sie das alles nur ausgehalten?
    »Sie hat die Insel geliebt«, gab eine Stimme in seinem Inneren zur Antwort. Und Jeels wusste, dass es so gewesen

Weitere Kostenlose Bücher