Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Frau seines Vaters. Doch die Franzosen haben ihn ausgewählt, entgegen der ursprünglichen Erbfolge der Dynastie.«
»Warum er? Er ist doch so jung!«, wunderte sich Nina.
»Genau deshalb. Eben
weil
er so jung ist. Sein Vater wollte sich dem Willen der Franzosen nicht fügen. Er war ein sehr eigenwilliger, unkontrollierbarer Herrscher, mit ihm war es für die Franzosen schwierig, die Geschicke des Landes zu beeinflussen. Also erklärten sie ihn für wahnsinnig und setzten ihn ab. Wenn sie einen so jungen Kaiser ausgewählt haben, dann deshalb, weil sie ihn von Anfang an in ihrem Sinne erziehen wollten. Sie lehrten ihn die französische Sprache, die französischen Umgangsformen, das Küssen der Hände – sie wollen ihm sogar beibringen, Walzer zu tanzen und Tennis zu spielen!«
»Aber warum denn nicht? Alle feinen Leute tanzen Walzer.«
Nina war verblüfft. Es war das erste Mal, dass sich eine Mutter darüber empörte, dass man ihrem Sohn gute Manieren beibringt.
»Bei dieser Behandlung«, erklärte die Königin, »wird der Kaiser von Annam irgendwann nichts weiter sein als eine französische Modepuppe nach Pariser Art, noch ehe er sechzehn Jahre alt ist.«
»Mit anderen Worten«, ergänzte Tam, »irgendwann wird er nur noch daran denken, auf Bälle zu gehen, Konversation zu betreiben und eine schöne Uniform zu tragen. Bis ihn die Angelegenheiten seines Volkes überhaupt nicht mehr interessieren.«
»Genau. Aus diesem Grund war ich betrübt darüber, dass man ihn als Nachfolger seines Vaters bestimmt hat. Ich will nicht, dass der Kaiser Duy Tân ein verschwenderischer und frivoler Dandy wird – eine willenlose Marionette in den Händen anderer.«
Jetzt sprach sie Tam direkt an.
»Wenn unser Land von einer Marionette regiert wird, werden wir alle ein wenig wie Marionetten sein.«
»Also wollen Sie, dass die Annamiten die Franzosen verjagen, ehe das geschieht«, schloss Tam stirnrunzelnd.
Sie waren wieder an die Feuerstelle zurückgekehrt, als Nina reagierte. Die unmittelbare Wirklichkeit, die sie durch den Anblick des schlafenden Kaisers vergessen hatte, holte sie plötzlich wieder ein.
»Was habe ich mit all dem zu tun?«, fragte sie. »Inwiefern betrifft mich das?«
»Das frage ich mich auch«, sagte Tam mit vor Aufregung glänzenden Augen. »Welche Beziehung besteht zwischen dem Gouverneur von Annam und der Tochter von Monsieur d’Armand, die gerade aus Frankreich eingetroffen ist?«
Die Königin Phuong zuckte leicht mit den Schultern, um ihre Unsicherheit zum Ausdruck zu bringen.
»Ich werde versuchen, es euch zu erklären. Ihr Vater, liebe Nina, hat eine gewisse Rolle bei all dem gespielt. Um einen Aufstand zu organisieren, braucht es Geld. Viel Geld. Und mir steht keines zur Verfügung.«
»Sie haben kein Geld?«, unterbrach Tam sie überrascht. »Aber Sie leben in einem Palast mit tausend Dienern und Sie tragen Diamant-Ohrringe!«
Die Königin Phuong schüttelte unglücklich den Kopf.
»Ja, ich trage kostbaren Schmuck und besitze Kunstwerke von hohem Wert, aber ich habe kein Geld zu verteilen. Ich kann keine Waffen bezahlen, indem ich meine Seidenkleider und mein Porzellan verteile. Aber …« Sie zögerte kurz, sprach dann aber weiter. »… aber ich kann meine Kunstwerke verkaufen, um an das für einen Aufstand notwendige Geld zu kommen.«
›Darum geht es also …‹ dachte Nina. Unmittelbar sah sie die Madonna aus Jade vor sich.
Sie tauschte einen Blick mit Tam. Sie hatten denselben Gedanken.
»Aber Sie können sie nicht selber verkaufen«, ergänzte Nina.
»Und Sie brauchen Menschen, die als Vermittler dienen«, fuhr Tam fort.
Die Königin nickte, ohne zu antworten. Stille breitete sich wieder über dem Trio aus.
Draußen hatte die Sonne endlich alle Wolken vertrieben. Man hörte die Vögel singen und die Insekten surren. Phuong, Tam und Nina schwiegen.
Plötzlich wurde die Stille unterbrochen. Wie eine kaum wahrnehmbare Schwingung, ein Rauschen in den Bäumen oder ein Rascheln auf dem Teich schien sich außerhalb des Pavillons irgendetwas in Bewegung zu setzen.
Eine Dienerin erschien vor der Königin. Sie kam aus den Gärten und schien verängstigt zu sein. Sie schaute über ihre Schulter in Richtung der großen bemoosten Treppe, und ihre Lippen zitterten. »Ich habe ihn gehört, Majestät«, sagte sie. »Ich habe ihn wieder gehört, ich schwöre es Ihnen!«
Die Königin Phuong nahm einen ernsten Gesichtsausdruck an und antwortete ihr streng auf Annamitisch. Die Frau wich mit
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