Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
abgesucht, bis ich vom Staroswjatski-Kloster hörte. Und als ich dann hierherkam, habe ich alles liebevoll für den großen Tag vorbereitet. Sawwati Chwalynow, der Zimmermann aus Denisjewo, hat mir diese Mine gebaut. Dafür habe ich ihn und seine Familie zur ersten Rettung ausersehen … Heute bringe ich Gott dem Herrn die Engelchen dar, dann wird meine Seele Frieden finden. Ich erfülle alles gemäß der Prophezeiung … Nur eines verwundert mich.« Sie runzelte plötzlich die Stirn und heftete ihren starren Blick auf Fandorin. »Die Schafe in der Vision sind gezählt. Es sind fünfzehn. Du bist aber der sechzehnte. Vielleicht war es ein Fehler, dich einzulassen? Warum siehst du mir nicht in die Augen, Bruder Erast?«
In diesem Moment begann in der Ecke ein Mädchen zu weinen.
»Mutter Kirilla, mir ist schlecht! Lass ein Weilchen die Tür öffnen!«
»Mir ist auch schlecht«, rief es von der anderen Seite.
»Mir auch. Es drückt auf die Brust!«
Eines der Kleinen schniefte, heulte dann los.
»Haltet aus, ihr Lieben! Haltet aus, ihr Guten!« redete Kirilla ihnen zu. »Haltet aus, solange ihr könnt. Wer viel leidet, den liebt Gott. Ich erzähl euch ein Märchen, ein leichtes, fröhliches. Und wenn ich fertig bin, zupf ich an der Silberschnur, dann fliegen die Seelchen leicht davon.«
Das Weinen verstummte, von allen Seiten kam nur qualvolles Hecheln.
Fandorin, ohne von den Knien aufzustehen, versuchte näher an die Wahrsagerin heranzugelangen.
»Mütterchen, was ich dir sagen wollte …«
Sie hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Komm nicht näher. Vor der Begegnung mit Gott dürfen Mann und Frau nicht beieinander sein. Das wäre Sünde.«
»Nach der Sünde wollte ich dich grade fragen«, sagte er mit gesenkter Stimme.
Immerhin ein bisschen hatte er die Distanz verringert. Und die Stimme gesenkt hatte er mit Bedacht, denn in solcher Situation neigt sich der Zuhörer instinktiv dem Sprecher zu.
»Ist es nicht Sünde, sie alle mitzunehmen? Sie sind doch noch ganz klein und unvernünftig. Ich habe da Zweifel.«
»Ach, deshalb bist du hier.« Kirilla sah ihn böse an. »Als Fragensteller bist du hergeschickt, des letzten Zweifels wegen. So wisse denn: Ich selbst habe mich das viele Male gefragt. Ich habe gebetet und geweint. Die Antwort fand ich in dem heiligen Buch – Verstand und Unverstand. Dort heißt es: ›Der Verstand ist des Teufels, von Gott ist das Herz. Wenn das Herz es will, so höre darauf.‹«
»Und wenn es nicht w-will? Schau: Sie weinen, sind verängstigt. Wollen ihre Herzen etwa den Tod? Wenn du den Kindern erlaubst, hinauszugehen, wird keines zurückbleiben! Wie heißt es doch im heiligsten der heiligen Bücher – entsinnst du dich? ›Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.‹«
Fandorin hatte noch nie an theologischen Disputen teilgenommen, und er zweifelte nicht, dass Kirilla sein Zitat, das ihm zufällig eingefallen war, mit einem Dutzend anderer, entgegengesetzter, beantworten würde.
Aber er hatte sich geirrt. Seine Argumentation wirkte. Nicht die altbekannten Worte Jesu an die Apostel beeindruckten sie, sondern etwas anderes.
»Du meinst, sie würden ins Freie laufen? Die himmlische Rettung verschmähen um der irdischen willen? Die weißen Lämmer? Die Engelchen Gottes?«, schrie sie gellend und reckte die Händeüber die Köpfe der Kinder. »Meine Söhnchen, meine Töchterchen! Wer will weg von hier? Ich halte keinen! Wurde eines von euch mit Gewalt hergebracht? Wer nicht mit mir in den Himmel möchte, kann gehen! Na, wen von euch soll ich rauslassen? Dich? Dich? Dich?«
Sie zeigte mit dem Finger nacheinander auf jedes der Kinder, und alle, selbst die kleinsten, schüttelten verneinend den Kopf.
»Na, Fragensteller, hast du gesehen? Schäme dich! Vielleicht willst du selber dein Fleisch retten? Dann laufe! Schlüpfe hinaus wie ein Mäuslein, aber mach rasch die Tür zu, sonst kommt wieder Luft rein. Habe Mitleid mit den Kindern! Zum dritten Mal zu ersticken, würde ihnen schwer werden.«
Fandorin schüttelte den Kopf.
»Du brauchst mich nicht zu verhöhnen, Mütterchen. Ich gehe nicht weg von hier. Ich bin erwachsen und habe meinen Entschluss gefasst. Aber die Kinder sind unverständig. Sie wollen nicht gehen, weil du und deine Führerin ihnen nur von der einen Taube gesungen habt.«
»Was denn für eine Taube?«, fragte
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