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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
Autoren: Boris Akunin
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Kirilla verwundert.
    »Wie in deinem Lied, weißt du nicht mehr? Von der grauen und der schwarzen Taube. Darin lässt du dem Mädchen die Wahl. Warum treibst du nun die Kinder mit Gewalt zur Heiligkeit? Unredlich ist das. Gott hat an solchem Opfer keine Freude.«
    Die Wahrsagerin überlegte.
    »Nun, du hast recht. Sollen sie nochmals auf ihre kleinen Herzen hören. Sprich du für die graue Taube, ich für die schwarze.«
    Solch eine Wendung hatte Fandorin nicht erwartet. Einerseits musste er die Chance nutzen, wenigstens einen Teil der Kinder zu retten. Andererseits – wie sollte er die kunstfertige Märchenerzählerin mit ihrer eigenen Waffe schlagen? Sie besaß Übung, eine eindringliche Stimme und einen magnetischen Blick. Und er? Er verstand sich nicht darauf, mit Kindern vernünftig zu reden.
    »Du schweigst? Nun, dann fange ich an.«
    Kirilla senkte den Kopf und holte tief Luft. Alle sahen sie mit angehaltenem Atem an.
    »Kein Märchen will ich erzählen, sondern eine wahre Geschichte«, hob sie an, leise, fast flüsternd. »Davon, wie die bösen Nikonianer 9 in ein Dorf kamen, um ihren Glauben einzuführen und den wahren Glauben auszurotten. Die Männer und Weiber, die Greise und Greisinnen ließen sich von den Verheißungen nicht verlocken noch von den Drohungen ängstigen, da gebot der Hund von Wojewode, sie alle in eine Scheune zu sperren und diese anzuzünden. ›Die kann ich nicht brauchen‹, sagte er. ›Die kleinen Kinder aber nehmen wir allesamt mit, kleiden sie ein auf unsere Weise, dann werden sie dem Zaren treue Diener sein.‹ Und sie sammelten alle Kinder ein, solche wie euch, setzten sie in einen finsteren Kerker, marterten sie mit Hunger, mit Peitschenhieben, mit glühenden Eisen an Händen und Füßen und mit sonstiger Pein …«
    Das Gesicht der Erzählerin war gesenkt. Ihr Flüstern wurde immer eindringlicher, es schien direkt aus der Erde zu kommen. Selbst Fandorin wurde es unheimlich, die kleinen Zuhörer aber begannen zu zittern. Es lag nicht an dem Erzählten und nicht an den Worten, sondern an diesem gedehnten, unheilvollen Zischen.
    »Ein Knabe, zehn Jahre alt, hielt es nicht mehr aus, als sie ihm mit einer Peitsche, deren sieben Riemen mit rostigen Nägeln gespickt waren, den Rücken zerfleischten und Salzwasser darüber gossen. Er weinte und bekreuzigte sich mit dem dreifingrigen Teufelszeichen, da ließ der Wojewode ihn gehen. Die übrigen Kinder wollten nicht nachgeben, und der Wojewode befahl, sie mit Hunden zu hetzen. Die Riesenköter mit ihren scharfen Zähnen stürzten sich auf die armen Kinder und rissen sie in Stücke. Das also machen die Nikonianer mit Menschen, die stark im Glauben sind. DerKnabe aber, der Gott verraten hatte, lebte noch lange auf Erden. Nur war sein ganzes Leben bis ins hohe Alter erfüllt von quälender Scham. Und als er gestorben war, stießen ihm die Teufel eiserne Haken unter die Rippen, und bevor sie ihn in die Hölle warfen, schleuderten sie ihn hinauf bis zum Himmel. Und da sah er die Jungen und Mädchen, die von Hunden zerrissen worden waren, auf einer seidenweichen Wolke im hellen Sonnenschein sitzen, licht und froh, und bei ihnen waren Christus und die Gottesmutter. Der Abtrünnige aber stürzte in den tiefen schwarzen Abgrund auf spitze Pfähle. Wie er da brüllte!« Dies schrie Kirilla plötzlich mit furchterregender Stimme, riss den Kopf hoch und ließ den irrsinnig glühenden Blick durch die Höhle gleiten. Die Kinder kreischten erschrocken. »Danach packten ihn die Teufel am Ohr – und rein in die Bratpfanne! Dann in ein klebriges Spinnengewebe zu den langhaarigen Spinnen, jede riesengroß! Und dann in eine Grube, die von Giftnattern wimmelte! Und so bis ans Ende aller Zeiten! Denn«, schloss sie ruhig und belehrend, »wer kurze Qualen redlich erträgt, dem ist die ewige Seligkeit gewiss. Wer jedoch durch finsteren Verrat den Tod hinausschiebt, der bezahlt mit ewiger Pein … So, graue Taube, jetzt bist du an der Reihe. Sprich!«
    Als Fandorin sah, wie sich die Kinder, von der grauslichen Erzählung verstört, aneinanderdrückten, war er nahe daran zu verzweifeln. Was konnte er dieser Ballung von Gräueln entgegensetzen, die noch dazu so meisterlich vorgetragen worden war?
    Wie sollte er den kleinen Bewohnern dieser Waldeinöde erklären, dass die Welt groß und schön ist? Die Worte, die Fandorin beherrschte, würden sie nicht erreichen. Und über Ausdrucksmittel, die für sie fasslich waren, verfügte er nicht … Ach, Masa müsste hier
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