Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
an die zwanzig Fuß Durchmesser mochte sie haben.
    In der Mitte des Raums ragte, wie Fandorin befürchtet hatte, ein hölzerner Pfahl. Auf halber Höhe war er dünn geschnitzt und dort nicht dicker als ein Bleistift. Wie mochte diese schwache Stütze die mit Brettern verkleidete und mit schrägen Querhölzern verstärkte Höhlendecke tragen? Die Konstruktion war sichtlich von einem Meister seines Fachs geschaffen worden.
    Die Mine war viel solider gebaut als die andere, die Fandorin in Bogomilowo gesehen hatte. Wahrscheinlich war sie schon vor längerem errichtet worden, um die »weißen Lämmer« zu
retten.
    Die Kerzen steckten nicht im Erdboden, sondern in Leuchtern auf kleinen Regalen. In der Ecke stand ein Schränkchen mit dem ewigen Lämpchen. Überall hingen Girlanden von Papierblumen.
    Aber Fandorin konnte all die Pracht noch nicht recht wahrnehmen. Aufmerksam studierte er den verhängnisvollen Pfahl, und erst dann ließ er den Blick zu Kirilla und den Kindern wandern.
    Sie waren tatsächlich »weiße Lämmchen«: die Mädchen in weißen Kleidern, die Knaben in weißen Hemdchen. Von allen Seiten waren ihre kleinen Gesichter auf Fandorin gerichtet – viele blinkende Augen wie zusätzliche Kerzenflammen.
    Polkaschka hatte sich rechtschaffen Mühe gegeben. Auf dem Erdboden saßen, eng aneinandergeschmiegt, vierzehn Knaben und Mädchen. Einige waren noch ganz klein – die älteren Geschwister mochten sie auf Schlitten hergebracht haben. Um sie vor dem Antichristen zu retten …
    Nachdem Fandorin die Kinder gemustert und gezählt hatte (mit Polkaschka waren es demnach neunundzwanzig), konzentrierte er sich endlich auf die Hauptperson.
    Sie war ohne ihre Augenbinde! Das war das Erste, was ihn verblüffte.
    Kirilla trug wie immer ihre Kutte. Sie hatte sich nicht herausgeputzt und nicht geschmückt, hatte nur die schwarze Augenbinde abgenommen.
    Doch was hatte sie für einen Blick! Eindringlich, herrisch, schimmernd wie geschmolzener Stahl.
    »Hast uns gefunden?«, sagte sie freundlich. »Du bist klug, das hab ich gleich begriffen. Das Herz hat es dir eingegeben. Du hast Glück, wirst dich retten. Setz dich dort in die Ecke. Setz dich!«
    Ihre Stimme und ihr Blick besaßen eindeutig hypnotische Kraft – Fandorin wurde leicht schwindlig, die Muskeln erschlafften, und es drängte ihn unwiderstehlich, sich zu setzen, dahin, wo es die Märchenerzählerin geboten hatte.
    Für einen Moment schloss er die Lider, schüttelte die Schlaffheit ab.
    Sollte er sich in die Ecke setzen oder nicht?
    »Erlaube mir, neben dir Platz zu nehmen, M-Mütterchen.«
    Wenn sie’s nur erlaubte! Dann war seine Aufgabe leichter.
    Glücklicher Umstand: Kirilla saß nicht neben dem Pfahl, sondern in einiger Entfernung. Wenn er sie mit einem plötzlichen Schlag ins Genick betäubte, konnte sie nicht den Einsturz herbeiführen.
    »Na, setz dich mir gegenüber«, stimmte sie leichthin zu. »Mit einem klugen Menschen plaudert man ja gern. Sieh an, bist gekommen, hast Luft reingelassen für eine Stunde mehr, wenn nicht noch länger. Mein Hündchen«, sagte sie sanft zu Polkaschka, »stell noch ein paar Kerzen dazu. Dann hat die Quälerei schneller ein Ende. Wenn’s nicht mehr auszuhalten ist, kann ich Erleichterung geben.«
    Danke, nicht nötig, dachte Fandorin.
    Ihr gegenüber zu sitzen, das war nicht die beste Variante. Dannkonnte er sie nicht mit der Hand erreichen. Wenn es keine andere Möglichkeit gab, würde er sie erschießen müssen. Den Revolver hatte er in der Tasche. Aus zwei Schritt Entfernung in die Stirn zu treffen, war kein Problem … Nein, das ging nicht. Die Kinder würden erschrecken, Gedränge würde entstehen. Wenn sie den Pfahl umstießen, stürzte die Decke ein …
    Und dann bemerkte Fandorin noch etwas, was ihn zwang, die Absicht zu schießen endgültig fallenzulassen.
    Im flackernden Kerzenlicht schimmerte eine Art Faden, der sich von Kirillas Handgelenk bis zu der verdünnten Stelle des Pfahls zog.
    Draht, begriff Fandorin. Eine Handbewegung der Märchenerzählerin, und der »leichte« Tod trat ein.
    Die Kinder rückten zur Seite, und er setzte sich auf japanische Art mitten unter sie. Von beiden Seiten und sogar von hinten schmiegten sich heiße Körper an ihn. Fandorin fühlte einen Kloß im Hals aufsteigen, er legte die Arme um seine beiden Nachbarn, einen Jungen und ein Mädchen. Die Schultern der zwei waren schmal und zart, die des Mädchens zitterten.
    »Ich erkenn dich wieder«, nuschelte die Kleine. »Du warscht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher