Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
Bürovorstehers, der eine Frikadelle mit einem gekochten Ei und hausgemachte Piroggen aß. Landrinow kaute Brot mit billiger Wurst, Taissi trank Bouillon aus einer Thermosflasche, Fedot Fedotowitsch aß nichts (offensichtlich war das unter seiner Würde), hörte aber Mawras Geplapper mit sichtlichem Vergnügen zu.
    »Ich habe eine Reproduktion gesehen – ›Frühstück im Freien‹! Als das Bild öffentlich ausgestellt wurde, war ganz Paris aus dem Häuschen. Entblößte Nymphen oder Odalisken kennt man ja, aber hier sind zwei Männer unserer Tage zu sehen, ein Tischtuch mit Flaschen und daneben, als wäre nichts dabei, eine splitternackte Madame, etwas weiter weg noch eine.« Das Fräulein schnappte sich vom Tisch ein Blatt Papier, drehte es um und skizzierte mit einem Bleistift die Anordnung der Figuren. »Ein Picknick im Grünen. Mit leichten Mädchen. Was für eine épatage!«
    »Scheußlich.« Serdjuk bekreuzigte sich nach einem Blick auf die Skizze und regte sich plötzlich auf. »Was fällt dir ein! Auf einer Abrechnung der Strecke Saratow-Samara!«
    »Halb so schlimm, Luka Lwowitsch«, Taissi flatterte herbei. »Ich radiere es weg, dann ist nichts mehr zu sehen. Zeichnen Sie nur, Mawra Lukinischna, soviel Sie wollen. Ich habe einen österreichischen Radiergummi, das geht ganz leicht.«
    Landrinow schubste Taissi beiseite und griff sich das Blatt.
    »Ich werd dir gleich was radieren! Das behalt ich zur Erinnerung, und die Abrechnung schreibe ich neu.«
    »Wie der Maler heißt, hab ich vergessen, aber in Paris kennt ihn wirklich jeder«, sagte Mawra träumerisch. »Ach, ich würde alles drum geben, seine Schülerin zu werden!«
    »Das ist unmöglich …«, setzte Fandorin an, er wollte sagen, dass Edouard Manet vor einigen Monaten gestorben sei, doch das sprunghafte Mädchen ließ ihn nicht ausreden, sie winkte bekümmert ab und sagte: »Ich weiß, ich weiß! Für mich gibt’s kein Paris! Aber davon träumen werd ich doch dürfen.«
    Dabei sah sie den »Praktikanten« ohne Groll an und lächelte sogar.
    »Haben Sie es sich überlegt mit dem Porträt?«
    Sie skizzierte etwas auf einem neuen Blatt – der Vater ächzte nur.
    »Wann denn?«, fragte Fandorin lächelnd. »Ich bin doch im Dienst.«
    »Kein Problem. Sie arbeiten, und ich setze mich in eine Ecke. Daran sind hier alle gewöhnt. Ich habe auch Papa gemalt und Marja. Morgen bringe ich die Staffelei mit. Aber kommen Sie in Uniform. Schwarz mit Silberstickerei, das steht Ihnen.«
    Als das Fräulein davongeschwebt war, schien es im Zimmer wieder dunkler zu werden. Trübsinnig kratzten die Federn übers Papier, die Remington klapperte, der Kammerdiener deckte sich mit den »Moskauer Nachrichten« zu und schlief ein.
    Fandorin aber fand zu einer neuen philosophischen Schlussfolgerung: Hübsche, lebhafte Mädchen sind genauso ein Wunder Gottes wie der nicht verbrennende Dornbusch oder die auseinandertretenden Wasser des Roten Meeres. Erstaunlich, wie sich die Männer und das Leben selbst verändern, sobald ein Mädchen wie Mawra auftaucht! Wenn sie nicht da ist, sitzen alle gleichsam im Dunkeln.
    In der zweiten Tageshälfte verging die Zeit noch langsamer.
    Das einzige Ereignis, das Abwechslung in die Routine brachte, war das Erscheinen eines schlitzäugigen Asiaten in einer himbeerfarbenenLivree, auf dem Kopf eine Mütze mit der Aufschrift »Dampfergesellschaft«. Er brachte eine Mitteilung für den Direktor persönlich und wurde vom Kammerdiener feierlich ins Kabinett geleitet.
    »Jetzt ist Mossolow total übergeschnappt und beschäftigt Chinesen als Laufburschen«, flüsterte Serdjuk.
    »Neulich kam ein Taubstummer von denen«, sagte Taissi kichernd. »Sagen konnte er nichts, nur ›muh muh‹. Ein richtiges Kalb.«
    Marja bog sich vor Lachen – der Vergleich mit dem Kalb belustigte sie.
    Sie konnten den Fall nicht weiter durchhecheln. Der Asiat blieb nicht länger als eine Minute bei Sergej von Mack. Offenbar erforderte die Mitteilung keine Antwort.
    »Von welchem Stamm bist du denn, du Vogelscheuche?«, fragte Landrinow den Boten taktlos.
    Der Asiat antwortete nicht. Er umfing alle Anwesenden mit starrem Blick und ging hinaus.
    Die Angestellten ließen sich noch fünf Minuten über ihn aus, dann trat wieder Stille ein.
     
    Am Ende des Tages ging Fandorin zum Baron.
    »Und?«, fragte dieser. »Geht’s voran?«
    Der Kollegienassessor hob unbestimmt die Schultern, auf denen die Achselklappen des Kaiserlichen Instituts für Ingenieurswesen

Weitere Kostenlose Bücher