Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Verkäuferin
entschuldigen.
Aber
Fräulein Michels kam allein zurück. Ihre Lippen schienen
noch schmaler geworden zu sein, als würden sie von dem blassen
Gesicht aufgesaugt. Mit krampfhaft lächelnden Mundwinkeln baute
sie sich vor Viktoria auf.
»Ich
bedauere.« Sie verstummte und räusperte sich. »Ich
bedauere außerordentlich im Namen von Herrn Behrens. Wir können
keine Wechsel von Ihnen annehmen, Fräulein Virchow.«
Viktoria
schüttelte ungläubig den Kopf. Dann stieß sie ein
kurzes Lachen aus.
»Stimmt
mit der Vollmacht etwas nicht? Ich weiß, mein Vater ist oft
zerstreut. Vielleicht fehlt irgendwo ein Stempel. Das lässt sich
leicht beheben, das wissen Sie doch.«
Sie
zog die Schultern stramm und blickte der Verkäuferin in die
Augen. Gute Kunden hatten ihre Rechte.
»Nein«,
kam es ungewohnt leise zurück. Fräulein Michels sah aus,
als wäre sie in diesem Augenblick gern ein anderer Mensch an
einem weit entfernten Ort. Ihre Hände hatten sich zu kleinen,
schwachen Fäusten geballt, wie um gegen eine Rolle zu
protestieren, der sie nicht entfliehen konnte. »Nein, es ist
nicht das Dokument. Das ist in Ordnung. Es ist … keine Wechsel
mehr von der Familie Virchow. Ich bedauere.«
Sie
senkte den Blick. Der rosige Farbton auf ihrem Gesicht ließ sie
ungewohnt frisch aussehen.
Viktoria
sprang auf.
»Herr
Behrens und Sie werden noch mehr Bedauern empfinden, wenn ich niemals
wieder diesen Salon aufsuche«, zischte sie entschlossen und
rief nach Magda, die mit halb zugeknöpftem Kleid hinter dem
Vorhang hervortrat. Sie sah nicht glücklich aus. Viktoria
zweifelte plötzlich, ob sie ihrer Zofe mit diesem Ausflug
wirklich einen Gefallen getan hatte.
»Komm«,
rief sie und legte ihre Hand auf Magdas Arm »Wir gehen in einen
anderen Salon. Hier ist alles doch nur altbacken und überteuert.
Die Bestellung für mein Hochzeitskleid storniere ich hiermit!
Morgen bekommen Sie das schriftlich.«
Sie
hatte lauter gesprochen als notwendig. Bis zum allerletzten Moment
erwartete sie noch, dass Herr Behrens auftauchen würde, um
Fräulein Michels zurechtzuweisen. Doch niemand hielt sie zurück,
als sie die Tür hinter sich zufallen ließ.
Auf
der Straße sog Viktoria gierig Luft in ihre Lungen. Eine
unsichtbare Schnur lag an ihrer Kehle.
»Es
tut mir sehr leid, gnädiges Fräulein. Es lag sicher an
mir«, stammelte Magda. Viktoria schüttelte verärgert
den Kopf.
»Ich
weiß nicht, woran es lag. Vielleicht war Herr Behrens betrunken
und begriff nicht, wer ich bin. Die Folgen muss er nun tragen, denn
wir gehen woanders hin.«
Entschlossen
schleppte sie die zögernde Magda in einen weiteren Modesalon in
einer Seitenstraße, wo sie mit Freude begrüßt
wurden, sobald der Name >Virchow’ gefallen war. Die
Bestellung für ein ähnliches Kleid aus dunkelblauer Seide
wurde angenommen und mit Viktorias Wechsel bezahlt. Viktoria
versprach, in den nächsten Tagen nochmals vorbeizukommen, da sie
selbst ein Hochzeitskleid brauchte. Die Eigentümerin des
Modesalons, eine junge Frau, die vor Kurzem ihr Geschäft
eröffnet hatte, strahlte über das ganze Gesicht, wodurch
Viktorias Welt wieder in Ordnung geriet. Als sie in der Kutsche saßen
und Richtung Marienthal fuhren, verdrängte Viktoria die
Erinnerung an den Besuch in Behrens Modesalon aus ihrem Gedächtnis.
Sie würde ihrer Mutter einfach sagen, dass sie woanders ein
schöneres Kleid gesehen hatte und es nun bestellen wollte, um
längere Diskussionen zu vermeiden. Es gab wichtigere Dinge in
ihrem Leben, als sich wegen des merkwürdigen Benehmens eines
Schneiders den Kopf zu zerbrechen.
2. Kapitel
»Gestern
hat es wieder Schwierigkeiten gegeben«, meinte Amalia Virchow
zu der Zeitung, hinter der sich das Gesicht ihres Mannes verbarg.
»Die Köchin schickte ein Küchenmädchen los, um
in der Stadt neuen Vorrat an Tee zu bestellen, der mir bei meiner
Migräne hilft. Wieder hieß es, er müsste auf der
Stelle bar bezahlt werden. Das hat früher niemand von uns
verlangt.«
Viktoria
wurde aus den Erinnerungen an ihr letztes Treffen mit Anton
gerüttelt. Der Besuch bei Herrn Behrens stieg in ihrem
Gedächtnis hoch. Er lag bereits drei Wochen zurück und sie
hatte ihn erfolgreich verdrängt. Nun überkam sie ein
unbestimmtes Gefühl der Beklemmung. Kamen derartig unschöne
Dinge nun wirklich öfter vor?
Sie
griff nach
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