Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
neugierig die erste weibliche Lao
Wai, der sie begegnete, doch hatte Marie pechschwarzes Haar und ihre
Haut war ebenso dunkel wie die einer sonnenverbrannten Hakka.
Abgesehen von ihrer Größe und der seltsamen Rundung an
ihren Hüften, hätte sie fast als Chinesin durchgehen
können. Andrew erklärte, dass Europa aus verschiedenen
Nationen bestand. Portugal, die Heimat von Maries Vorfahren, lag im
Süden und deshalb waren Menschen dort so dunkel wie im Süden
Asiens. Marie redete laut und viel, hatte kein Problem damit, Männern
ins Wort zu fallen, und erdolchte ihren eigenen Gemahl mit Blicken,
wenn er eine andere Frau länger als notwendig anstarrte. Darin
glich sie den Frauen der Hakka, denn Han-Chinesinnen wurden zu mehr
Zurückhaltung erzogen. Pofu knurrte zunächst, dass eine
fremde Barbarin sich in ihre Aufgaben mischte, doch mit der Zeit
begann sie, Maries Kampfgeschick zu schätzen. Die Lindleys
wohnten im Palast des Generals Li Xiucheng. Marie beherrschte
Mandarin ebenso gut wie Andrew, doch war sie der Sprache der Hakka
nicht mächtig. Yazi erhielt die Aufgabe, ihr als Dolmetscherin
zur Seite zu stehen, und wurde schließlich eingeladen, mit den
Lindleys zu Abend zu essen. Es sollte ein Treffen in deren
Privatgemächern werden, ohne Li Xiucheng und seine Familie. Sie
bat Andrew um Begleitung, damit er ihr half, sich bei den Fremden
richtig zu benehmen. Trotz aller Befürchtungen, einer Welt voll
unbekannter Regeln ausgesetzt zu sein, wie damals im Hause der Rongs,
verlief der Abend erstaunlich angenehm. Diener trugen chinesisches
Essen und Wein auf, den Lao Wai offenbar trinken durften und in
erstaunlichen Mengen vertrugen. Yazi erfuhr, dass Marie mit Augustus
Hilfe vor ihrem Vater geflohen war, der sie in Macao mit einem ihr
verhassten Mann hatte verheiraten wollen. Diese Geschichte klang
keineswegs fremd. Die Lindleys waren erst kürzlich nach dem
Taiping-Ritual getraut worden, gemeinsam mit der Tochter Li
Xiuchengs, die nach langem Drängen ihren Wunsch durchgesetzt
hatte, einen Lao Wai und guten Freund von Augustus heiraten zu
dürfen. Yazi war erleichtert, dass die Lindleys an dieser
Verbindung keinen Anstoß nahmen. Sie lernte, dass europäische
Ehepaare einander oft gemeinsam besuchten, ganz gleich, welchen
gesellschaftlichen Rang sie innehatten. Das entsprach den Sitten der
Taiping. Vornehme Han-Chinesen ließen ihre Frauen gewöhnlich
zuhause, wie sie bei den Rongs gelernt hatte. Nur Kurtisanen zeigten
sich in der Öffentlichkeit.
Yazi
gefiel diese Gemeinsamkeit zwischen Taiping und Europäern. Es
gefiel ihr auch, dass die Lindleys sich nicht daran störten,
einen Landsmann an der Seite einer Chinesin zu sehen. Bald begannen
die Treffen zu viert regelmäßig stattzufinden. Mit der ihr
eigenen, unverblümten Neugier wandte Marie sich eines Abends an
Yazi und fragte flüsternd, wie sie ihren Engländer denn
kennengelernt hatte.
»Ihr
seid ein witziges Gespann, der Philosoph und die Kriegerin«,
fügte sie sogleich hinzu, während ihre dunklen Augen
blitzten. »Ein schöner, kluger Mann, keine Frage. Nur
redet seinesgleichen immer sehr viel und tut sehr wenig. Ich hätte
da nicht deine Geduld.«
Yazi
richtete sich energisch auf, um Andrew zu verteidigen. Er
unterrichtete Kinder. Er hatte ihrer Tochter und auch ihr selbst den
Blick auf eine fremde Welt geöffnet. Außerdem musste sie
klarstellen, dass sie mit Andrew nur Freundschaft verband, auch wenn
sie nicht gern log. Maries Plappermaul war nicht zu trauen. Doch
bevor diese Worte sich auf ihrer Zunge formten, quoll das Essen
plötzlich aus ihrer Kehle und zwang sie zu würgen. Entsetzt
betrachtete sie den bräunlichen Brei zu ihren Füßen.
»Es
tut mir schrecklich leid. Ich vertrage all diesen Wein nicht«,
murmelte sie beschämt. Marie war bereits mit einem Tuch
herbeigeeilt, um das Erbrochene aufzuwischen. Yazi war ihr dankbar,
dass sie deshalb keine Bedienstete geholt hatte, denn sie wollte
diesen peinlichen Vorfall so geheim wie möglich halten. Andrew
legte seine Hand auf ihre Schulter.
»Ich
bringe dich nach Hause.«
Sie
wollte erwidern, dass sie den Weg in ihren Guan allein finden konnte,
da schob Marie sich dazwischen.
»Schon
gut, ich kümmere mich ein bisschen um die kleine Wildkatze.«
Sie
führte Yazi in ein Nebenzimmer und brachte selbst einen Eimer
Wasser herein, um ihr das Gesicht zu waschen.
»War
es wirklich der Wein?«, plapperte sie
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