Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Richtung
Shanghai, wo mit einem freundlichen Empfang durch die westlichen
Mächte gerechnet wurde. Li Xiucheng forderte alle in der
internationalen Siedlung lebenden Ausländer durch eine Nachricht
an ihre Konsulate auf, gelbe Fahnen an ihre Häuser zu hängen
und sich während der Schlacht von den Straßen
fernzuhalten. Dann würde ihnen nichts geschehen. Als keine
Antwort kam, geriet seine Überzeugung, sich auf die Mithilfe der
fremden Glaubensbrüder verlassen zu können, etwas ins
Wanken, doch rechnete er weiterhin mit ihrer Neutralität. Nichts
bereitete das Heer der Taiping darauf vor, dass sie noch vor Einnahme
des chinesischen Stadtteils von westlichen Feuerwaffen beschossen
werden würden. In ihrer Fassungslosigkeit standen sie wie
Steinstatuen, zunächst unfähig, selbst auch nur einen
einzigen Schuss abzufeuern, während ihre Reihen durch zahlreiche
Tote und Verletzte immer lichter wurden. Nachdem die Angreifer
vertrieben worden waren, erhielt Li Xiucheng auch eine Antwort auf
seine Briefe an westliche Konsulate: Das Heer der Taiping habe sich
in Zukunft von Shanghai fernzuhalten und zudem sei es fortan allen
westlichen Händlern streng verboten, ihnen weiterhin Waffen oder
andere Vorräte zu liefern.
Gleichzeitig
wurde der Widerstand des Kaisers gegen die Verträge, welche die
westlichen Mächte China aufzwangen, endgültig gebrochen,
nachdem Lord Elgin und seine französischen Verbündeten
Beijing eingenommen, die kaiserliche Familie vertrieben und
schließlich auch noch den Sommerpalast in Schutt und Asche
gelegt hatten.
All
diese Ereignisse erreichten das Dorf, in dem Yazi, Andrew und
Chuntian Zuflucht gefunden hatten, nur als leises Donnergrollen aus
der Ferne. Flüchtlinge berichteten von dem Vorstoß der
Taiping durch die Qing-Reihen, doch schien es Andrew alles andere als
sicher, sich nun ebenfalls Richtung Shanghai aufzumachen, denn es
könnte für Yazi zu einer Begegnung mit alten Bekannten
werden. Yazi selbst war erleichtert, bleiben zu können. Der
Landesherr, dem dieses Dorf ursprünglich gehört hatte, war
vor den Taiping geflohen, sodass die Bauern hier unbehelligt lebten
und es zu keinen Fragen wegen des Auftauchens eines Ausländers
kam. Je runder Yazis Bauch wurde, desto tiefer sank sie in das Gefühl
satter, stiller Zufriedenheit.
Ihr
zweites Kind kam kurz nach Beginn des Jahres des Metallhahns zur
Welt, dem elften und letzten Regierungsjahr des Xianfeng-Kaisers,
1861 nach westlicher Zeitrechnung. Es war eine schnelle Geburt, bei
der Zhamengs Hilfe kaum von Nöten war. Die Hebamme musste ihre
Mühen weitgehend darauf richten, Andrew am Eindringen zu
hindern, sobald die Wehen Yazi aufschreien ließen. Sie fand
dieses Verhalten seitens eines Mannes völlig unverständlich.
Wussten die Lao Wai denn nicht, dass es für jede zivilisierte
Frau ein unerträglicher Gesichtsverlust wäre, in diesem
Zustand von einem Mann gesehen zu werden? Yazi staunte, wie wenig die
Vorstellung von Andrews Anwesenheit sie selbst erschreckte. Fast
hätte sie Zhameng aufgefordert, ihn einfach hereinzulassen, doch
fehlte ihr die Kraft für Diskussionen mit einer entgeisterten
Hebamme.
Das
Kind war ein großer, kräftiger Junge mit pechschwarzem
Haar und asiatischen Gesichtszügen. Yazi fürchtete fast,
Andrew könne enttäuscht sein, so wenig von sich selbst in
seinem Sohn wiederzuerkennen, doch verjagte er alle Sorgen durch
einen Freudenschrei, der das Neugeborene noch lauter zum Plärren
brachte. Im Hintergrund stieß Zhameng einen tiefen Seufzer aus.
»Ein
Prachtexemplar. Ein Goldjunge«, rief der Vater unbeirrt und
stimmte eine Art Tanz in der Hütte an, deren Decke er fast mit
dem Kopf berührte. Yonggong wagte sich zögernd herein,
gefolgt von Chuntian und der restlichen Kinderschar.
»Ein
Junge«, verkündete Zhameng so stolz, als habe sie selbst
Einfluss auf das Geschlecht des Kindes genommen. Yonggong
beglückwünschte Andrew, der wieder für Befremden
sorgte, als er meinte, eine Tochter wäre ihm fast lieber
gewesen.
»Aber
wir haben ja schon eine«, meinte er zu Chuntian gewandt, deren
Gesicht aufleuchtete wie eine Laterne. »Jetzt hat sie einen
Bruder. Vielleicht kommt bald schon auch eine Schwester dazu.«
Er
lächelte Yazi an, die kurz das Gesicht verzog. Sie war trotz
allem froh, Schwangerschaft und Geburt erst einmal hinter sich
gebracht zu haben.
»Wie
soll er heißen?«, meldete Chuntian sich zu Wort
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