Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Sie
wollte sich zur Tür wenden, doch Zhameng legte eine Hand auf
ihren Arm.
»Es
gibt so viele Gefahren. Eine mehr oder weniger, was macht das schon?«
Sie lachte. »Bleib, bis dein Kind geboren ist. Eine Frau in
deiner Lage braucht Hilfe.«
Sie
tauschte einen Blick mit ihrem Ehemann, der brummelnd zustimmte.
******
Yazi
lernte, dass Seidenraupen ständig mit den Blättern des
Maulbeerbaumes gefüttert werden mussten, die zu diesem Zweck
gesammelt und klein geschnitten wurden. Sobald die auf Matten in
einem luftigen Raum gelagerten Raupen nach zahllosen Umdrehungen um
sich selbst ihren Kokon gesponnen hatten, wurden sie mit kochendem
Wasser übergossen und damit abgetötet. Nur wenigen war es
vergönnt, als Schmetterlinge zu schlüpfen, um so für
weitere Eier zu sorgen.
Erstaunlicherweise
konnten diese Schmetterlinge nicht einmal fliegen. Andrew erklärte
das durch die uralte Zucht von Seidenraupen. Die Schmetterlinge
hatten das Fliegen verlernt, da sie es nicht mehr brauchten. Er sah
nicht glücklich über die Abtötung der Raupen aus und
wies auf die Mahnung Buddhas hin, Tiere als fühlende Wesen zu
achten. Yazi hatte bisher kaum etwas von den Lehren Buddhas gehört.
Er schien ein ebenso wohlmeinender, weltfremder Mensch gewesen zu
sein wie Andrew. Sie erinnerte sich an die völlig leblos
wirkenden, eingesponnenen Raupen. Vielleicht empfanden sie einen
kurzen Moment des Schmerzes, sobald das kochende Wasser auf sie
niederging, doch wie würde Zhamengs Familie leiden, wenn der
Hungertod sie dahinraffte? Vermutlich würde sie oft an Andrews
Stelle handeln müssen, um das Leben ihrer Familie zu retten.
Aber wie Marie Lindley bereits erkannt hatte, besaß sie dafür
die nötige Geduld. Vielleicht brauchte die Welt solche Menschen,
um nicht ganz in Intrigen und Gewalt zu versinken.
Chuntian
erwies sich beim Auswickeln der Kokons, die in heißem Wasser
aufgeweicht wurden, und dem Abhaspeln der Seidenfäden
erstaunlich geschickt, denn ihre zarten, einfühlsamen Hände
schienen wie geschaffen für diese Arbeit. Die Ernte fiel gut aus
und Zhameng strahlte so zufrieden, dass Yazis Angst, bald schon
verjagt zu werden, allmählich nachließ. Die Kinder des
Dorfes gingen sogar nach Anbruch der Dunkelheit gern in die Hütte,
in der Andrews Unterricht stattfand. Ihr Lao Wai bezauberte Menschen
so schnell, dass sie ihn manchmal scherzhaft einen Magier nannte. Sie
begriff nicht, warum er dies weder schmeichelhaft noch amüsant
fand, obwohl er doch über die eigenartigsten Dinge lachen
konnte. Aus unerfindlichen Gründen legte sich jedes Mal ein
Schatten über sein Gesicht, sobald sie auf seine allgemeine
Beliebtheit anspielte. Es musste mit seiner Vergangenheit zu tun
haben, grübelte sie, mit jener Zeit bei seinen Leuten, über
die er kaum sprach. Bei der Vorstellung, dass sie in Shanghai auf
seine Familie treffen sollte, wurde ihr zunehmend unwohl, aber sie
verdrängte dieses Unbehagen, denn es gab im Augenblick genug
andere Sorgen.
Die
allmähliche Rundung ihres Unterleibs erfüllte sie mit
unbekannter Freude. Ihre erste Schwangerschaft hatte sie als
unvermeidliches Übel ertragen, doch nun ließen die ersten
Tritte in ihrem Unterleib ihr Herz ungestüm schlagen. Andrew
wollte das heranwachsende Wesen immer wieder berühren, was Yazi
zunächst peinlich war, doch als sie ihn weinen sah, sobald seine
Hand auf ihrem Bauch lag, wurden auch ihre Augen feucht.
Es
erschreckte sie manchmal, wie weich das Glück sie machte. Sie
fühlte sich sicher und geborgen wie die Seidenraupe in ihrem
Kokon, erleichtert, nicht mehr ständig stark wirken zu müssen.
Einen liebevollen, klugen Mann an ihrer Seite und ein Zuhause für
ihre Familie, das war alles, was sie wirklich brauchte, auch wenn sie
es erst hatte finden müssen, um dies zu erkennen. Nur manchmal
fragte sie sich, ob nicht auch auf ihren Kokon irgendwann das kochend
heiße Wasser niedergehen würde.
******
In
der Zwischenzeit war die Qing Armee bis an die Stadtmauern von
Nanjing vorgerückt, ein Gewaltmarsch, der glücklicherweise
an Zhamengs Dorf vorbeizog, sodass ihm Plünderung erspart blieb.
Eine hartnäckige Belagerung begann. Es gelang Li Xiucheng, der
tatsächlich den Oberbefehl über das Taiping-Heer erhalten
hatte, wieder ein Bündnis mit Shi Dakai einzugehen, die Front
der Qing-Armee zu durchbrechen und Suzhou einzunehmen. Nach diesem
glorreichen Sieg zogen die Taiping voller Optimismus
Weitere Kostenlose Bücher