Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
siegreichen Armee.
In
Yazis Leben schwappten nur kleine Wellen des großen Sturms.
Ausgemergelte Elendsgestalten, deren Zuhause vom Kriegsgeschehen
zermalmt worden war, schleppten sich fast täglich bettelnd
heran. Zhameng gab auch ihnen zu essen, doch andere Dorfbewohner
begannen ihre Türen vor hungrigen Bettlern zuzuschlagen. Das
abgehaspelte Seidengarn zu verkaufen war nicht leicht, obwohl der
Krieg vorbei war. All diese herumziehenden, entwurzelten Bettler
verwandelten sich aus Verzweiflung schnell in Räuberbanden.
Zudem hatte der Krieg Horden marodierender Soldaten hinter sich
gelassen, die mit dem Frieden nichts anfangen konnten. All das
schadete dem Handel, denn es war sowohl für Käufer als auch
Verkäufer gefährlich, durch die vom Krieg zerstörte
Gegend zu ziehen.
Von
Andrew kam unerwarteterweise eine sehr nützliche Idee. Er schlug
vor, an den Ufern des nahe gelegenen Yangzi zu warten, bis ein
britisches Handelsschiff vorbeikam. Er winkte es heran, verhandelte
selbst mit dem Kapitän, der sich schließlich bereit
erklärte, die Seidenernte auf eigene Verantwortung aufzukaufen.
Er zahlte einen guten Preis, aber Andrew meinte, in Shanghai wäre
besserer Gewinn zu machen gewesen. Das Dorf verfügte nun über
Geld, doch es fanden immer seltener Märkte im Umland statt und
für die dort angebotenen Lebensmittel wurden horrende Preise
verlangt. Andrew verteilte zu Yazis Entsetzen die Hälfte ihrer
Vorräte an eine Schar zerlumpter Kinder, deren Mutter nach der
Ankunft im Dorf zusammengebrochen war, um nicht mehr aufzustehen.
Diese Kinder schliefen drei Nächte lang auf dem Boden der Hütte,
dann verschwanden sie so plötzlich, wie sie gekommen waren, um
ihr Leben als wandernde Bettler fortzuführen. Yazi wusste nicht,
wie sie ihre Familie durch den Rest des Monats bringen sollte.
Zhameng um Hilfe zu bitten war unmöglich, denn deren Haut klebte
bereits in braunen Falten an ihren Gesichtsknochen.
»Wir
können nicht länger bleiben«, erkannte Andrew auf
einmal von selbst, als Yazi den spärlichen Reis in vier
Schüsseln verteilte, deren Boden er kaum bedecken konnte. »Ich
habe kein Recht, auf Kosten armer Menschen zu leben, wenn meine
eigene Familie reich ist.«
Yazi
hob erwartungsvoll den Kopf. Sie hätte sich gewünscht, dass
er ihre eigene Notlage nicht völlig übersah. So sehr sie
Andrews Gerechtigkeitssinn bewunderte, im tagtäglichen
Lebenskampf verlangte er ihr mitunter viel Geduld ab.
»Heißt
das, wir gehen nach Shanghai?«, fragte sie. »Der Krieg
ist vorbei.«
Sie
wusste, dass eine solche Reise immer noch gefährlich war. Andrew
nickte nur.
»Ja,
wir sollten losziehen«, sagte er. »Es geht nicht mehr
anders.«
Yazi
hätte gern ein wenig Freude oder wenigstens Erleichterung
empfunden, dass sie nun ans Ziel ihrer Reise gelangen sollten. Aber
sie konnte ihre Ohren nicht vor dem gepressten Klang seiner Stimme
verschließen, als er den übernächsten Tag bereits als
Abreisetermin vorschlug.
»Niemand
hier hat noch die Kraft für ein größeres
Abschiedsfest«, gab er als Erklärung für den raschen
Aufbruch an. Yazi widersprach nicht, obwohl auch sie plötzlich
von Schwermut niedergedrückt wurde. Als sie den verkrampften Zug
um Andrews Mund sah, stieg eine lähmende Angst in ihr hoch, die
fast noch zermürbender schien, als alle Furcht vor ihrer ersten
Schlacht als Taiping-Kriegerin gewesen war. Damals hatte sie gewusst,
dass sie ein Schwert in der Hand haben würde, um sich zu Wehr zu
setzen.
Von
der Zukunft, die sie in einer völlig fremden Familie erwartete,
vermochte sie sich nicht einmal ein schemenhaftes Bild zu machen.
******
»Morgen
also«, meinte Zhameng, als sie gemeinsam die Eier der
Seidenraupen massierten und mit feinen Kämmen bürsteten.
»Ihr geht nach Shanghai.«
Yazi
bestätigte das. Sie legte ein paar Eier sorgsam auf die Matte.
Mit einem Tuch, das sie um ihren Körper gewickelt hatte, um es
zu wärmen, würden sie schließlich abgedeckt werden.
»Ich
werde ein paar Vorräte für euch einpacken«, fuhr
Zhameng ganz sachlich fort. Als Yazi protestieren wollte, fiel sie
ihr ins Wort.
»Du
und deine Tochter, ihr habt beide fleißig gearbeitet, doch
werdet ihr von den nächsten Kokons nicht mehr profitieren
können. Auch dein Lao Wai hat sich gut um unsere Kinder
gekümmert. Wir sind es euch schuldig, euch nicht völlig
mittellos ziehen zu
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