Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
übernachten!«,
rief Dewei. Viktoria drückte spontan seine Hand. Es konnte ihr
wenigstens niemand vorwerfen, diesen Jungen im Stich gelassen zu
haben.
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Es
war ein buddhistisches Kloster, das Zimmer an Reisende vermietete,
was wohl die günstigste Art der Übernachtung darstellte.
Kahl rasierte Mönche in leuchtend orangefarbenen Gewändern
brachten Reis und Gemüse. Viktoria aß mit Appetit. In der
chinesischen Kleidung fühlte sie sich mittlerweile als
unauffälliger Teil ihrer Umwelt, doch rutschte ihr nach einer
Weile der Hut vom Kopf und sie spürte die gewohnten neugierigen
Blicke im Rücken, über den das rotblonde Haar sich ergoss.
Es amüsierte sie, dass überall auf der Welt nicht alle
Mönche in der Lage schienen, ihr Interesse an weltlichen Dingen
nach dem Einritt ins Kloster mit der weltlichen Kleidung abzulegen.
Auf
dem Boden waren Matten und Decken ausgebreitet worden. Viktoria nahm
mit Erleichterung zur Kenntnis, dass sie den Raum wenigstens nicht
mit unbekannten Leuten teilen musste. Jinzi hatte genug bezahlt, um
ihnen etwas Privatsphäre zu ermöglichen. Vermutlich hatte
er das Geld von Shen Akeu. Und vermutlich wollte er so wenig
Aufmerksamkeit wie möglich auf das exotische Mitglied seiner
Reisegruppe lenken, daher der Luxus eines Einzelzimmers. Nun, da sie
auf der Matte lag und Schlaf zu finden suchte, spürte sie ein
Stechen und Ziehen an zahllosen Stellen ihres Körpers. Niemals
hätte sie gedacht, dass bereits ein einziger Tag auf dem harten,
holpernden Karren ihr derart zusetzen würde. Es wäre so
viel angenehmer gewesen, vom Dampfer aus die vorbeiziehende
Landschaft zu betrachten, als auf dem Karren durchgeschüttelt zu
werden. Sie hätte nach der Ankunft in Shanghai erst einmal
wieder Kontakt zu den Huntingdons suchen können, anstatt gleich
mit einem halbchinesischen Familienmitglied hereinzuplatzen.
Vielleicht hatte Yazi Recht, sie verhielt sich stets wie ein empörtes
Kind, das trotzte und Wutausbrüche bekam. Wie es wohl ihrer
Mutter gerade in diesem Moment erging? Viktoria war stets davon
ausgegangen, dass Magda ihr erzählt haben musste, wohin die
unerwünschte Tochter aufgebrochen war, dass sie einen Brief zu
den Huntingdons hätte schicken können, wenn sie wieder
Kontakt mit dieser Tochter gewünscht hätte, aber stimmte
diese Annahme tatsächlich? Warum hatte sie in ihren wenigen
Briefen an die ehemalige Zofe niemals nach dem Schicksal der Witwe
eines ruinierten Reedereibesitzers gefragt? Ihre eigenen Sorgen
hatten sie völlig in Anspruch genommen, und die Erinnerung
daran, wie eine lästige Dienstbotin aus dem Haus gewiesen worden
zu sein, hatte zu sehr geschmerzt, um Versöhnung zuzulassen.
Aber vielleicht war sie einfach nur eine hartherzige, selbstsüchtige
Tochter.
Viktoria
fuhr auf. Sie vermochte keinen Schlaf zu finden, so sehr ihre Glieder
sich auch nach Erholung sehnten. Sie wickelte sich die Decke um die
Schultern, schritt über die schlafenden Körper ihrer drei
Mitreisenden hinweg und trat ins Freie. Das Kloster lag auf einem
Hügel und hatte wie die meisten chinesischen Behausungen einen
weiten Innenhof, um den sich einzelne Gebäude gruppierten. Die
Umrisse von Statuen buddhistischer Gottheiten zeichneten sich klar im
Mondlicht ab, entspannten durch glatte, ebenmäßige Formen.
Räucherstäbchen glommen davor als rote Funken. Chinesen
waren Meister in der Gestaltung schwereloser Harmonie. Viktoria
fühlte Lasten von ihrer Seele gleiten.
Sie
trat zu dem Eingangstor, das zu ihrer Erleichterung offen stand. Eine
steile Treppe führte den Hügel hinab. Sie ließ sich
auf der obersten Stufe nieder und sog die kühle Abendluft in
ihre Lungen. Am liebsten hätte sie sich unter dem freien Himmel
ausgestreckt, doch fürchtete sie, bald schon zu frieren. Ein
paar Minuten noch, dann würde sie in den Gästeraum
zurückkehren und hoffentlich Schlaf finden können.
Sobald
sie in Shanghai war, sollte sie einen Brief an ihre Mutter schreiben.
Erstaunlicherweise schien dies nun eine Lösung ihres Problems,
mit der sie leben konnte. Kurz schloss sie die Augen, um einen
Augenblick völliger Zufriedenheit mit sich und der Welt zu
genießen. Dann ließen Schritte in ihrem Rücken sie
aufschrecken. Viktoria fuhr herum, empfand zunächst
Erleichterung, als sie Jinzis hochgewachsene Gestalt erkannte, dann
Ärger. Warum sah der unverschämte Chinese sich genötigt,
sie nun auch in diesem kostbaren Moment der Ruhe zu
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