Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Huntingdon suchen. Schon aus diesem Grund würde
er alles daransetzen, von dem Schiff zu entkommen, was ihn das Leben
kosten konnte.
»Ich
muss es verhindern«, rief sie. Anettes vorwurfsvoller Blick
machte ihr klar, dass sie wieder zu laut gewesen war, doch diesmal
kümmerte es sie nicht. Sie ergriff die weiche Hand mit dem
Goldfinger und drückte sie verzweifelt zusammen.
»Bitte,
Anette, Ihr Mann hat doch sicher einigen Einfluss, kann er denn
nichts dagegen unternehmen? Ich würde … ich werde sicher
Möglichkeiten finden, wieder Geld zu verdienen, und dann
erstatte ich natürlich alle Ausgaben, die … die eventuell
notwendig waren.«
Sie
senkte den Blick. Es gehörte sich nicht, offen über
Bestechung zu sprechen, doch sah sie im Augenblick keinen anderen
Ausweg. Zum ersten Mal nach langer Zeit sehnte sie wieder das
väterliche Vermögen herbei, denn es hätte ihr in
Shanghai genug Einfluss verliehen, um die Verleumdungen eines Joseph
Andrews unwichtig zu machen.
Anettes
Gesicht war schlagartig abweisend geworden.
»Es
tut mir leid, aber Nathan etabliert sich hier gerade als
Geschäftsmann, er hat längst nicht so viel Einfluss, wie
Sie annehmen, und eine Einmischung in die Angelegenheiten des
britischen Konsulats wäre … ungünstig.«
Sie
nippte nochmals an der Kaffeetasse.
»Es
gibt noch eine Neuigkeit, die Sie interessieren könnte,
Mademoiselle Virchow«, meinte sie dann etwas freundlicher.
»Dieser deutsche Gesandte, den Sie in Peking getroffen haben …«
»Max
von Brandt?«, warf Viktoria ein.
»Ja,
ich denke, so heißt er. Er soll in zwei Wochen in Shanghai
eintreffen. Das habe ich bei einem Teezirkel von der Frau eines
deutschen Ingenieurs erfahren, der sich eine gute Anstellung als
Berater der chinesischen Armee erhofft, denn angeblich wollen die
Chinesen ja nun von uns Europäern lernen. Jedenfalls wird dieser
Max … wie auch immer er heißt … auf seiner
Rückkehr aus Korea hier Halt machen und das deutsche Konsulat
besuchen.«
Viktoria
lehnte sich zurück. Ihr Atem wurde langsam ruhiger, denn sie sah
wieder einen Weg vor sich, dem sie folgen konnte.
»Vielen
Dank, Anette«, meinte sie nur. Die Französin lächelte.
»Nun
muss ich zu meinem Arzt. Ich habe Hoffnungen dass …«
Ihre
Hand strich rasch über ihren Unterleib.
»Das
würde vielleicht sogar Nathans Familie wieder milde stimmen«,
fügte sie hinzu.
Es
dauerte eine Weile, bis Viktoria die Anspielung begriff. Dann
beglückwünschte sie Anette zum Abschied. Wieder verspürte
sie einen feinen Stich in ihrem Herzen, als die elegante, ganz und
gar weibliche Erscheinung in eine Jinrikscha stieg und von der
Menschenmenge verschluckt wurde. Sie hatte sich niemals wirklich nach
Mutterschaft gesehnt, doch musste es ein beruhigendes Gefühl
sein, seinen festen Platz in einer Familie zu haben. Sie selbst hatte
seit dem Tod ihres Vaters das Gefühl, wie ein verlorenes Stück
Holz auf stürmischen Gewässern zu treiben.
Sie
schüttelte die Schwermut ab. Nun musste sie sich innerlich auf
ein Gespräch mit Max von Brandt vorbereiten, der ihr wenigstens
wohlgesonnen war. Die Aussicht auf ein Wiedersehen mit ihm verlieh
ihr einen erfrischenden Funken von Lebensmut. Um ihre spärlichen
letzten Münzen zu sparen, lief sie zu Fuß zum Hotel,
kämpfte sich durch schreiende Menschenmassen in der Foochow
Road, wo die Häuser wohlhabender chinesischer Kompradors sich an
Bordelle und Opiumhöhlen reihten, sobald der europäische
Bund am Horizont verschwunden war. Viktoria wusste inzwischen von
Rosie McGregor, dass es unter den Prostituierten eine klare
Rangordnung gab. Wohlhabende Kurtisanen besaßen ihre eigenen,
elegant eingerichteten Häuser, wo sie tagsüber sangen und
auf Instrumenten spielten. Männer kamen, um sie zu bewundern und
erste Kontakte zu knüpfen. Diese Mädchen konnten es sich
erlauben, Kunden abzulehnen, die ihnen nicht gefielen, und in vielen
dieser Häuser waren westliche Herren nicht willkommen, da es
ihnen an dem gewünschten Benehmen mangelte. Doch mussten diese
Mädchen in der kurzen Zeit ihrer Jugend versuchen, genug Geld
für ihre restlichen Lebensjahre anzusammeln, sonst drohte ihnen
der Abstieg in ein gewöhnliches Bordell. Viktoria versuchte,
durch ein paar offene Tore zu spähen, denn die zarten, mit
Blumen und leuchtenden Juwelen geschmückten Gestalten dieser
Mädchen
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