Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
den Spiegel zeigte ihr ein frisches
Gesicht mit rosigem Farbton. Lange hatte sie nicht mehr so entspannt
und glücklich ausgesehen. Jene Dinge, die Mann und Frau
gemeinsam taten, konnten ihr Aussehen tatsächlich verändern,
wenn sie nicht nur aus einem heftigen Stechen zwischen den Beinen
bestanden. Würde sie nun erfahren müssen, wie abstoßend
sie ebenfalls sein konnten?
»Was
kann sie von dir wollen?«, hörte sie Jinzis Stimme in
ihrem Rücken. Er klang besorgt.
»Ach,
nichts Besonderes. Bevor wir dich aus dem Gefängnis holten,
haben wir uns eine Weile unterhalten. Sie will vielleicht das
Gespräch fortsetzen«, beruhigte sie ihn. Es war nicht der
Moment, ihm die genaueren Umstände zu erklären. Sie
schlüpfte in ein paar Stoffschuhe, die auf dem Boden herumlagen,
und huschte mit hämmerndem Herzen hinaus.
Der
Diener führte sie Stufen hinab. Sie durchquerten ein paar Räume,
in denen Leute schlafend auf Betten und manchmal auch auf dem Boden
herumlagen. Der Tag begann erst spät in einem Bordell, dachte
Viktoria, was also konnte Shen Akeu im Morgengrauen von ihr wollen?
Sie
wartete bereits auf der Straße. In einer schlichten, dunklen
Hose und einer gefütterten Jacke war sie kaum wiederzuerkennen.
Ihr Haar war zu einem Zopf geflochten und nicht einmal in den
Ohrläppchen war das Funkeln von Schmucksteinen zu sehen.
Viktoria stellte staunend fest, dass diese Frau auch ohne Schminke
und teure Kleidung einen höchst eleganten Eindruck machte.
»Ich
hoffe, mein Diener hat Sie nicht geweckt«, begann Shen Akeu.
»Ich hatte ihn ausdrücklich angewiesen, nur zu klopfen,
wenn er bereits Geräusche hinter der Tür hört.«
Viktoria
räusperte sich etwas verlegen.
»Wir
waren schon wach, keine Sorge.«
»Dann
möchte ich Sie nun zu einem Spaziergang durch das alte Shanghai
einladen«, fuhr Shen Akeu fort. »In den Morgenstunden ist
die Stadt noch ruhig, fast menschenleer. Und die Luft riecht
erstaunlich frisch. Ein paar Ecken weiter gibt es einen
Straßenhändler, der bereits seinen Stand aufgebaut hat.
Ich hole mir fast jeden Morgen gefüllte Teigtaschen bei ihm.
Mein Diener wird Ihnen eine Jacken bringen und wärmeres
Schuhwerk.«
Sobald
Viktoria wintertauglich eingekleidet war, gingen sie gemeinsam los.
Der Gestank der Chinesenstadt war tatsächlich so schwach
geworden, dass Viktoria ihn fast nicht wahrnahm, denn eisige, reine
Morgenluft wehte ihr ins Gesicht. Ein paar verlorene Schneeflocken
tanzten darin herum. Die Zeit der Kälte war nur kurz in
Shanghai, doch schien sie im Vergleich zu den langen, heißen
Monaten besonders frostig. Das europäische neue Jahr würde
bald beginnen, überlegte Viktoria und schlang die Arme um sich,
da sie fror. Sie kamen langsam vorwärts, denn Shen Akeu konnte
auf ihren Lilienfüßen keine langen Schritte machen.
Viktoria bemühte sich, nicht vorauszueilen, obwohl sie sich gern
durch Bewegung aufgewärmt hätte. Sie ahnte, dass die
Chinesin es als Kränkung empfunden hätte.
»Ich
liebe es, früh aufzuwachen«, erzählte Shen Akeu,
während sie Seite an Seite über den zu einer festen Schicht
gefrorenen Straßenschlamm schritten. »Viele Jahre lang
fand mein Leben vor allem nachts statt. Ich fühlte mich völlig
ausgelaugt, wenn der Morgen graute, dämmerte bis zum Mittag
dahin. Mein sehnlichster Wunsch war es, eine Nacht lang völlig
ungestört schlafen zu können, damit ich den Morgen genießen
konnte. Er ist so sauber, so voller Hoffnung.«
Viktoria
nickte, obwohl sie selbst es eher als Privileg betrachtete, am Morgen
friedlich ausschlafen zu können. Am Ende der Gasse erreichten
sie einen Stand, der tatsächlich schon geöffnet war. Sein
Besitzer überreichte Shen Akeu mit einer Verbeugung eine
Schüssel Teigtaschen und zwei mit Sojamilch gefüllte
Holzbecher, die Viktoria in die Hand gedrückt wurden.
»Hier
in der Nähe ist ein alter Garten namens Yuyuan«, erzählte
Shen Akeu, während sie weitergingen. »Leider wurde er in
den letzten Jahren stark beschädigt, aber sehenswert ist er
durchaus. Ich setze mich dort gern hin, um zu essen. Um diese Zeit
ist er noch fast leer.«
Das
Ziel des Spaziergangs lag hinter dem Teehaus, das Viktoria bereits
aufgefallen war. Sie überquerten die Holzbrücke,
durchschritten ein Tor und fanden sich in der akkurat
ausgearbeiteten, grazilen Welt chinesischer Gärten wieder, doch
begann die Natur hier bereits
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