Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
aufzusteigen. Mit
Männern, denen sie gefallen.«
Viktoria
sprang von dem Kang. Mit zitternden Händen ergriff sie das
erstbeste Kleidungsstück, das sie am Boden herumliegen sah, eine
jener langen chinesischen Männerroben, die wohl für Jinzi
hereingebracht worden waren. Sie verschwand in einer Ecke, um sie
rasch überzustreifen, denn sie wollte in diesem Haus nicht mehr
unbekleidet herumsitzen.
»Diese
Frau ist widerlich! Wie konnte sie so etwas von dir verlangen?«,
rief sie dann. Der Herzschlag hämmerte ihr in den Ohren. Am
liebsten wäre sie mit Dewei auf der Stelle hinausgerannt, doch
fühlte sie sich trotz allem nicht in der Lage, Jinzi einfach
zurückzulassen.
»Geh
sofort zurück zu den McGregors!«, zischte sie dem Jungen
nur zu. »Du sollst hier keinen Moment länger als notwendig
bleiben.«
Dewei
schlich leise zur Tür.
»Ich
hole uns allen erst einmal ein Frühstück, dann sehen wir
weiter.«
Rasch
huschte er nach draußen. Sein Verschwinden steigerte Viktorias
Anspannung, denn nun war sie wieder allein mit Jinzi, der ihr
nachdenklich in die Augen blickte. Sie hatte ihn als aufbrausend
kennengelernt, doch nun war er unerträglich ruhig, sodass sie
mühsam gegen den Wunsch ankämpfte, ihn zu schütteln
und anzuschreien. Stattdessen drehte sie eine Runde durch das kleine
Zimmer, trat ein paar Gegenstände zur Seite und blieb
schließlich stehen, ratlos, wie sie die stürmischen Wogen
in ihrem Inneren glätten sollte.
Jinzi
stand auf und goss über Nacht sicher erkaltetes Wasser aus einer
Kanne in Teetassen.
»Als
du in Beijing gelebt hast, hast du da manchmal morgens diesen Wagen
durch die Straßen fahren hören, Vi Ki?«, fragte er.
Viktoria drehte sich ungeduldig um. Was sollte jetzt diese Frage?
»Welchen
Wagen denn?«
»Nun,
in der Gegend, wo die Häuser der Mandarine stehen, ist er
seltener. Aber der Wagen sammelt all die von ihren Eltern
ausgesetzten weiblichen Säuglinge auf, um sie in ein Waisenhaus
zu bringen.«
Viktoria
setzte sich verwirrt auf einen Stuhl. Sie war bisher davon
ausgegangen, dass nur Missionare wie die Frazers sich um diese
Mädchen kümmerten, aber warum fing Jinzi jetzt damit an?
»Shen
Akeu war eines dieser Mädchen«, beantwortete er auch schon
die unausgesprochene Frage. »An einem Anhänger um ihren
Hals wurde sie als eine Akeu, das ist ein Volksstamm, erkannt und
erhielt diesen Namen. Mehr weiß sie nicht von ihren Eltern. Sie
war ein unerwünschtes Kind, ein Niemand, schlimmer dran als ich,
denn ich hatte wenigstens noch meine Mutter. Mit fünf Jahren
wurde sie von dem Leiter des Waisenhauses an ein Bordell verkauft,
weil sie auffallend hübsch war. Und überlege, wo sie nun
ist? Wie weit sie es gebracht hat? Kannst du eine solche Frau
wirklich verachten?«
Verwirrt
nahm Viktoria den kalten Tee entgegen. Etwas hatte sich verändert.
Noch während der Reise nach Shanghai hätte Jinzi ihr diese
Worte ins Gesicht gebrüllt und sie wäre mit Dewei empört
hinausgestürmt. Doch nun, da er ruhig mit ihr sprach, blieb ihr
nichts anderes übrig als zuzuhören und über seine
Worte nachzudenken.
Sie
senkte seufzend den Kopf.
»Ich
gebe zu, es ist eindrucksvoll, wie weit diese Frau im Leben gekommen
ist«, musste sie schließlich gestehen. »Aber im
Grunde wurde sie wie die Leute, die ihre Lage ausgenützt haben.
Sie betreibt selbst Bordelle.«
Jinzi
setzte sich an ihre Seite.
»Sie
kauft keine jungen Mädchen ein«, widersprach er. »Alle
kamen freiwillig zu ihr. Es gibt so viel Elend bei uns, da muss sie
niemanden zwingen. Sie behandelt ihre Leute gut, wenn sie ihre Arbeit
machen. Die Anderen werden einfach nur fortgeschickt. In all den
Jahren, da ich bei Shen Akeu war, hat sie kein Mädchen schlagen
lassen. Ich sollte sogar Männer hinauswerfen, die gewalttätig
wurden. Du brauchst dir um Dewei keine Sorgen zu machen, ihm droht
hier keine Gefahr.«
Er
legte seine Finger auf ihr Handgelenk. Die Berührung tat
erstaunlich wohl.
»Es
ist alles so schwer für mich«, sagte sie mit ungewohnter
Ehrlichkeit und fuhr sich mit der freien Hand über die Stirn.
»Diese ganze Welt der Bordelle, daran kann ich mich nicht
gewöhnen. Shen Akeu ist nicht so, wie ich sie mir vorgestellt
habe, das stimmt. Aber was sie tut und was sie andere tun lässt,
das widert mich an. Ich kann nicht anders.«
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