Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
chinesischen Bühnen dargestellt wurden,
womit er Deweis Aufmerksamkeit völlig fesselte. Viktoria schien
vieles allzu fremd, sie fand den vorbildlichen Mut der Helden und die
Selbstlosigkeit der Frauen auf Dauer etwas ermüdend, doch war es
ihr bei alten europäischen Geschichten manchmal ähnlich
ergangen. Als Jinzi anschließend ein paar Kopfstände und
Sprünge vollführte, hingen ihre Augen wieder fasziniert an
seinem Körper. Dewei zog sich zurück, als es zu dämmern
begann. Er wollte bei den Dienern schlafen. Viktoria staunte über
sein Feingefühl. Sie hätte ihn gern zurückgehalten,
aber der Wunsch, wieder mit Jinzi allein sein zu können, war
stärker.
******
»Woher
sind all diese Narben?«
Sie
ließ ihre Finger über Jinzis Haut fahren. Die Wunden an
seinem Rücken waren nun von dicken Krusten bedeckt, doch hatte
sie weitere Einkerbungen auf seinem Körper entdeckt, Spuren von
Verletzungen, die viel älter sein mussten und sich wie ein
unregelmäßiges Muster über Rücken und Oberarme
zogen.
»Ich
weiß es nicht mehr«, erwiderte er gähnend, wälzte
sich herum und schlang seine Arme um sie. »Als wir noch
herumzogen, geriet ich manchmal in Schlägereien. Vielleicht war
es auch mein Lehrer Wang Xingfu, der einen Akrobaten aus mir machte.«
Sie
fuhr entsetzt zurück.
»Er
hat dich dabei geprügelt?«
Leise
lachend zog er sie wieder an sich.
»Und
wie meint meine verwöhnte Prinzessin, dass man kleine Kinder
dazu bringt, Kopfstände und halsbrecherische Sprünge zu
machen, bei denen sie ständig blaue Flecken und Schürfwunden
bekommen? Ihre Körper derart anzustrengen, dass ihnen am
nächsten Tag jeder Muskel wehtut, sie aber trotzdem
weitermachen?«, fragte er und küsste ihre Stirn. Viktoria
wehrte ihn verärgert ab. Das war keine Bagatelle.
»Deine
Mutter hat geduldet, dass du derart geschunden wurdest?«,
bohrte sie fassungslos nach.
»Meine
Mutter hat in einer Armee gedient. Kannst du dir vorstellen, wie dort
mit ihr umgegangen wurde?«, erwiderte Jinzi nun etwas ernster.
»Diese Dinge sind eben notwendig, damit Menschen alles geben,
was sie können. Ich wäre sonst nicht wirklich gut geworden.
Außerdem hatte ich Glück. Meine Mutter weigerte sich, mich
an Leute zu verkaufen, die Talente für die großen Bühnen
in Beijing suchten. Von denen wäre ich noch viel härter
angepackt worden.«
Empörung
brodelte in Viktoria, ließ sie alle Zärtlichkeiten
abwehren und in die Höhe schießen.
»Mein
Vater hat mich vieles gelehrt, aber er schlug mich kein einziges Mal.
Sonst hätte ich den Unterricht gehasst. Ich will, dass Kinder
mit Freude lernen. Wenn du Dewei auch nur einmal schlägst, dann
hacke ich dir die Hand ab«, zischte sie.
Jinzi
hob die soeben bedrohte Hand und begann, ihre Locken um seine Finger
zu wickeln.
»Ich
habe gemerkt, wie du ihn verwöhnst«, erzählte er
unterdessen. »Ich fragte mich, was aus einem derart
verzärtelten Jungen werden soll. Aber wenn ich darüber zu
entscheiden hätte, würde ich jedem Kind so eine Behandlung
wünschen.«
Er
beugte sich vor und zog sie mit einer Heftigkeit an sich, die ihren
Widerstand erlahmen ließ.
»Du
bist so unglaublich nett«, flüsterte er, während er
sie wieder auf dem Kang ausstreckte. »Vielleicht sollten alle
Menschen derart verwöhnt werden, dann wäre es eine bessere
Welt.«
Viktoria
schluckte verlegen. Seit dem Tod ihres Vaters hatte niemand mehr
derart anerkennende Worte zu ihr gesagt. Draußen graute bereits
der Morgen, bald käme der Diener mit der Morgensuppe und auch
Dewei. Sie küsste Jinzis Schlüsselbeinknochen und fühlte,
wie ein Zittern durch seinen Körper zog. Es erstaunte sie immer
noch, wie glücklich er über jede ihrer Berührungen
war. Sie wollte die kurze Zeit, da sie noch allein waren, nutzen,
doch wurden sie durch ein unerwartetes Klopfen gestört. Das
Gesicht des Dieners schob sich herein, nur trug er diesmal keine
Schüsseln.
»Die
edle Dame Shen Akeu wünscht ihre fremde Besucherin zu sehen«,
verkündete er stattdessen. Viktoria fuhr zusammen. Auf einmal
wurde die Welt zu einem dunklen Schlund, in dem sie zu versinken
drohte. Würde Shen Akeu nun verlangen, dass sie ihr Versprechen
erfüllte? Mit butterweichen Knien streifte sie wieder die lange
chinesische Robe über und fuhr sich mit den Fingern durch ihr
zerzaustes Haar. Ein Blick in
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